Szczepan Twardochs neuer Roman „Kälte“, erschienen bei Rowohlt 2024 - aus dem Polnischem von Olaf Kühl, erzählt die Geschichte von Konrad Widuch, einem Mann aus dem niederschlesischen Dorf Pilchowice. Konrad verließ seine Heimat im Alter von 14 Jahren, um zunächst im Kohlebergbau im Ruhrgebiet zu arbeiten und später der preußischen Marine während des Ersten Weltkriegs beizutreten. Anschließend schloss er sich den Bolschewiken an. Im Jahr 1946, nun in seinen Fünfzigern, ist Konrad auf einem fremden Schiff im Nordmeer gestrandet und reflektiert sein Leben durch Tagebuchnotizen.
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Die Rahmenhandlung des Romans beginnt und endet mit einer autobiographisch anmutenden Episode, in der der Schriftsteller Szczepan auf eine ältere Seefahrerin trifft, die ihm das Tagebuch von Konrad Widuch übergibt. Der Hauptteil des Buches besteht aus dem Tagebuch selbst, in dem Konrad sein Leben und seine Erlebnisse in der stalinistischen Sowjetunion reflektiert. Er erinnert sich oft an seine Kindheit in Pilchowice und spricht von „unserer Sprache“, ohne jedoch in Sentimentalität zu verfallen. Twardoch lässt seinen Protagonisten zwischen verschiedenen Sprachen wechseln: Deutsch, Polnisch, Russisch und die Sprachen indigener Völker des russischen fernen Ostens.
Konrads Leben ist geprägt von Gewalt, insbesondere in den blutigen Kämpfen der Reiterarmee Budjonnys und durch die Säuberungsaktionen Stalins, die ihn in ein Gulag in Sibirien bringen. Seine Flucht aus dem Lager im Jahr 1946, zu Fuß und auf dem Pferd über das Eis, ist eine zentrale Episode des Buches. Eis und Kälte dienen als Metaphern für die emotionslose, ungerechte Welt, die Konrad erlebt.
„Kälte“ von Szczepan Twardoch ist ein kraftvoller und zugleich verstörender Roman, der sowohl in seiner literarischen Ausführung als auch in seiner thematischen Tiefe beeindruckt. Die Geschichte von Konrad Widuch ist ein faszinierendes Porträt eines Mannes, der zwischen verschiedenen Identitäten und Sprachen navigiert und sich den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts stellt. Die Tagebuchform ermöglicht dem Leser eine intime Einsicht in Konrads Gedankenwelt, geprägt von Selbstreflexion und kritischen Betrachtungen seiner Rolle in den historischen Verwerfungen.
Jedoch weist der Roman auch Schwächen auf. Der ruhige, manchmal fast träge Erzählrhythmus führt dazu, dass sich die Handlung zeitweise zieht. Twardochs Entscheidung, ein fiktives nordisches indigenes Volk einzuführen, wirkt stellenweise wie ein archaischer Science-Fiction-Roman und nimmt sicher nicht jeden Leser mit. Die sprachlichen Wechsel und die tiefe Auseinandersetzung mit verschiedenen Kulturen sind zwar beeindruckend, könnten aber für einige Leser zu komplex und überwältigend sein.
Letztlich ist „Kälte“ ein literarisch wertvolles Werk, das durch seine Ambivalenz besticht. Es ist eine tiefgründige Reflexion über Identität, Sprache und Geschichte, die jedoch auch Geduld und ein gewisses Maß an Hingabe vom Leser verlangt. Twardoch bietet eine Lehrstunde der Geschichte Osteuropas im 20. Jahrhundert, indem er die brutalen Realitäten und die psychologischen Abgründe seines Protagonisten auf eindrucksvolle Weise schildert.
Szczepan Twardoch
Szczepan Twardoch, geboren 1979 in Knurow, Polen, ist ein bedeutender polnischer Schriftsteller. Er lebt in Pilchowice, Niederschlesien, und thematisiert in seinen Werken oft seine Heimatregion und ihre Geschichte. Twardoch studierte Soziologie und begann seine literarische Karriere mit Kurzgeschichten und Essays. Sein Durchbruch gelang ihm 2012 mit dem Roman „Morphin“, der zahlreiche Auszeichnungen erhielt. Weitere bekannte Werke von Twardoch sind „Drach“ (2014), „Der Boxer“ (2016), „Das schwarze Königreich“ (2020) und „Kälte“ (2024).
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