Die Insel des weisen Mannes (Auszug aus einer Erzählung)

Vorlesen

Mattis und Ben saßen in der Kantine des internationalen Finanzkonzerns, bei dem sie als Fondsmanager angestellt waren. Sie aßen gemeinsam zu Mittag.

„Ich war vor einigen Wochen bei einem Mann in den Bergen“, erzählte Ben mit leuchtenden Augen. „Zu ihm kommen Menschen, die nach Antworten im Leben suchen.“

„Was macht ihn so außergewöhnlich?“, fragte Mattis.

„Der Mann ist ein Phänomen“, schwärmte Ben. „Er lebt einsam auf einer Insel in einem Bergsee, in völliger Abgeschiedenheit. Alle, die mir von ihm erzählt haben, waren hellauf begeistert. Er hat sofort verstanden, was ihr Problem ist, und konnte ihnen sofort helfen.“

„Er scheint ein bemerkenswerter Mann zu sein. Wie hast du von ihm erfahren?“

„Meine Nachbarin Julia hat mir von ihm erzählt. Sie hat als Steuerberaterin gearbeitet. Dann war sie bei ihm. Julia hat Mut gefasst, endlich ihren Traum zu verwirklichen. Sie wird eine Buchhandlung in der Innenstadt eröffnen. Später habe ich mich mit Freunden von Julia unterhalten. Sie waren ebenfalls sehr von ihm angetan.“

„Ja, und jetzt?“, wollte Mattis wissen.

„Wie, und jetzt?“

„Was hat dir der Mann geraten, als du bei ihm warst?“

„Es ist nicht so wichtig, was er gesagt hat“, sinnierte Ben, „sondern wie er das getan hat. Mattis, ich glaube, ich werde etwas komplett anderes machen.“

„Wie, etwas völlig anderes? Hörst du etwa in der Firma auf?“

„Zumindest spiele ich mit diesem Gedanken. Ich möchte mich meiner Leidenschaft, dem Gartenbau, widmen.“ Ben sah ihn strahlend an.

„Weißt du was, Ben? Ich habe ähnliche Gedanken wie du.“

„Ach ja? Worüber denkst du nach?“

„Mir gefällt unsere Arbeit auch nicht immer. Häufig denke ich darüber nach, dass ich gerne etwas anderes machen würde. Mich würde es freuen, wenn ich Menschen helfen könnte. Außerdem würde mir weniger Stress guttun.“

„Hast du schon eine Idee, was du gerne stattdessen tun würdest?“

„Nein, nicht unbedingt. Ich habe mich häufiger mit Kira darüber unterhalten. Aber eine Lösung haben wir noch nicht finden können.“

„Vielleicht könnte dir mein Bekannter helfen?“

„Hm, du könntest recht haben. Ich werde das mal mit Kira besprechen.“

„Klar, das verstehe ich. Warte, es ist nicht einfach zu erklären, wo er wohnt. Ich werde dir eine Karte zeichnen. Du kannst sie verwenden, falls du dich dafür entscheiden solltest, ihn aufzusuchen.“

Den ganzen restlichen Tag kreisten Mattis‘ Gedanken um Bens Geschichte. Immer wieder fragte er ihn nach Einzelheiten. Könnte ihm dieser Mann helfen, seinem Leben eine entscheidende Wendung zu geben?

Über die Erzählung und den Autor Dario Schrittweise

Sie haben einen Auszug aus der Erzählung „Die Insel des weisen Mannes“ von Dario Schrittweise gelesen. Die Erzählung gehört zu seiner Prosasammlung „Kaleidoskopische Welten“, die am 22.03.24 erschienen ist. Der Erzählband ist sein Erstlingswerk (mehr dazu unter dario-schrittweise.org/kaleidoskopische-welten).

Dario Schrittweise, Jahrgang 1980, lebt und arbeitet in Nürnberg. In seiner Freizeit verfasst er Erzählungen, Kurzgeschichten, kurze lyrische Texte und Blogbeiträge. Wenn er nicht schreibt, beschäftigt sich Dario Schrittweise gerne mit Fotografie, geht ins Kino, Theater, Museum etc. Er begeistert sich auch für (Fern-)Wanderungen und Reisen. In seinem Blog „dario-schrittweise.org veröffentlicht er Erzählungen, Kurzgeschichten sowie Kunst- und Reisebeiträge etc.

Den Rest dieser Erzählung und viele andere Kurzgeschichten könnt ihr in seinem Erzählband „Kaleidoskopische Welten“ lesen.

Gefällt mir
1
 

Weitere Freie Texte

Freie Texte

Fiona: Hoffnung

FIONA

Die Hoffnung klopft, so zaghaft sacht, doch bricht sie jedes Mal bei Nacht. Auch wenn sie den tag über nur lacht Hält sie der gedanke trotzdem die ganze Nacht wach Es wird bestimmt klappen Und ich kann es auch schaffen Und ich werde mich auch trauen, ... doch ... ich könnte es auch versauen Die Hoffnung, einst so zart und klein, ertrank in Tränen, kalt und rein. Sie fragt nicht mehr, warum, wofür, denn jede Antwort schweigt in ihr. Hoffnung nur ein positives Gefühl Sie glaubte daran doch dass ...
lesering
Freie Texte

Die Sehnsucht. Pindars Ode

Paweł Markiewicz

Du wie die Träumerei geboren von dionysischen Oden wie zarter Tag in deinem Wind – verzaubertem Schmetterling so wie das Goldene Vlies – zauberisch in der anmutigen Phantasie graziöses Paradies verloren ist doch gefunden und so schwärmerisch Du lotos-zärtlicher Tagfalter du – über den Vulkanen mit sanfter Flügel-Verzaubertheit verewigt in den Zeiten Ich möchte sein wie Du und ewige dankende Augen ein Heer der Gefühle scheint in fernen Mythen Ländern Ich wäre linder und unendlich wunderbar wie ...
lesering
Freie Texte

Irena Habalik: Hinter den geschlossenen Türen

Irena Habalik

werden die Gabeln poliert für die nächste Zugabe wird Posaune geübt für das Jüngste Gericht zu große Brust flach gelegt und geschmeckt zu kleiner Kopf in den Topf gesteckt wird laut diskutiert über die Abwesenheit der Milch wird geklagt über das Nachlassen der Schwerkraft Hinter den geschlossenen Türen wird die Liebe kalt begossen werden die Messer gewetzt, in die Tasche gesteckt die Unwahrheiten serviert zu den Mahlzeiten wird Brecht zitiert und Benn applaudiert das Perverse wird hier probiert ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Maxima Markl: Zeit

Maxima Markl

Ich schaue auf die Uhr vor, nach und während einer Tat die Zeit vergeht wenn ich nicht hinschaue Das Ticken einer Uhr ein Herzschlag Bist du tot, bleibt die Zeit für dich stehen Du veränderst dich nicht Bleibst gleich Bis die Zeit alle geholt hat Die sich an dich erinnerten Und die Uhr tickt weiter Früher gab es keine Uhr Keine Zeit Die Tage verschmolzen ineinander Aber es gab auch keine Tage Nur hell und dunkel War die Zeit dazwischen Sie floss wild Ungebändigt Und doch so stetig Bis man ihr ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Gabriele Ejupi: Die Last

Gabriele Ejupi

Der Schnee lastet schwer auf den Zweigen. Sie senken sich unter dem Druck, geben nach, verlieren ihren Widerstand. So lastet auch die Bürde des Lebens auf unseren Schultern, und auch wir geben nach, gehen nicht mehr so aufrecht wie einst. Wir versuchen, einiges abzuschütteln, die Last zu vermindern, sie in eine weit entfernte Ecke zu schieben. War es wirklich wichtig? Nicht alles verdient es, bis ans Ende unserer Tage getragen zu werden. Erinnerungen verblassen, und mit ihnen wird die Last ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Martin Neuhold:Lautlos

Martin Neuhold

Andere zerbrechen laut, und die Welt hält inne, reicht Hände, flüstert Trost. Ich zerbreche nach innen, schichtweise, lautlos, wie Holz, das von innen fault, bis nur noch die Hülle bleibt – aufrecht, unauffällig, brauchbar. Manchmal wünsche ich mir, zu schreien, zu explodieren, sichtbar zu sein im Splittern und Bersten. Aber ich bleibe still, wie immer, und funktioniere weiter, während mein Herz im Verborgenen zu Staub zerfällt.

Aktuelles