Wladimir Sorokin Doktor Garin

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Doktor Garin Doktor Garin Erscheinungstermin: 08.02.2024 592 Seiten ISBN: 978-3-462-00286-7 Autor: Vladimir Sorokin Übersetzt von: Dorothea Trottenberg Kiepenheuer& Witsch

Doktor Garin“ ein Roman geschrieben von Wladimir Sorokin einem der bekanntesten zeitgenössischen russischen Schriftsteller, dessen Werke häufig für ihre innovativen Narrative und tiefgreifenden gesellschaftlichen Kommentare gelobt werden. Sorokins Werke sind jedoch auch in seinem Heimatland Russland kontrovers, insbesondere aufgrund ihrer kritischen Perspektiven auf die russische Gesellschaft und Politik. Dies hat zu verschiedenen Reaktionen geführt, einschließlich des Verbots seiner Bücher in Russland.

„Doktor Garin“ ist der Mittelteil in einer Trilogie. Diese besteht aus den Werken „Der Schneesturm“, „Doktor Garin“ und „Nasledie“ (Das Erbe).

Doktor Garin, der Protagonist hat sich im Mittelteil deutlich verändert. Er ist nun Anfang 50 und nun der Chefarzt einer psychiatrischen Klinik im Altaigebirge. An seiner Seite ist Mascha, seine Assistentin und Geliebte, die ihn in seinen Bestrebungen unterstützt.

Im Abschnitt über die Heilanstalt Altai-Zedern in „Doktor Garin“ findet sich eine satirisch überhöhte Darstellung einer Gruppe von ehemaligen politischen Führungspersönlichkeiten, die nach ihrer Machtenthebung in einem Sanatorium untergebracht sind.

Diese Charaktere, die durch ihre grotesk- verzerrte Körperformen auf humorvolle und kritische Weise die Absurditäten der globalen politischen Bühne widerspiegeln. Ihre Namen lauten Wladimir, Angela, Boris, Donald, Emmanuel, Justin, Silvio und Shinzo und sie sind gemeinsam in diesem Sanatorium.

So bietet sich eine einzigartige Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit Themen wie Macht, Dekadenz und menschlicher Schwäche. Jeder Charakter bringt seine eigenen "Macken" mit, die in der Anstalt behandelt werden sollen, um einen Zustand der Stabilität zu erreichen. Dieser Umstand unterstreicht die universellen menschlichen Eigenschaften und Schwächen, die selbst bei ehemaligen Führungspersönlichkeiten zu finden sind.

Tiefes Misstrauen gegenüber politischer Autorität und Macht - ein wiederkehrendes Thema in Sorokins Werken

Boris' charakteristischer erster Auftritt, in dem er eine Liste absurder und extravagant anmutender Wünsche äußert, von Büchern bis hin zu Dildos, unterstreicht seine impulsive und infantile Natur. Diese Szene mag zwar humorvoll sein, aber sie enthüllt auch die tiefgreifenden Persönlichkeitsdefizite und die Isolation, die oft hinter öffentlichen Figuren versteckt sind. Sein früher Tod, zusammen mit Shinzo, als Folge eines atomaren Angriffs, formt das ganze noch düsterer und zeigt, dass trotz aller absurden und komischen Elemente in Sorokins Werk echte Gefahren und Tragödien lauern.

Durch die Darstellung dieser ehemaligen politischen Führer in einer derart reduzierten und komischen Form kritisiert Sorokin nicht nur ihre Politik und Persönlichkeiten, sondern auch die Art und Weise, wie Macht und Einfluss die Wahrnehmung und das Verhalten von Menschen verändern können.

In dieser bizarren Welt, die von künstlichen Wesen bevölkert ist, deren Körper und Geist durch Technologie verzerrt wurden, setzt Garin seine unkonventionellen medizinischen Praktiken fort. Seine Methoden, insbesondere die spezielle Schocktherapie, sollen nicht nur seine Patienten beruhigen, sondern auch die fortschreitende Zombifizierung der Menschheit verhindern.

Analogien zu Dürrenmatts „Die Physiker“

Beim Lesen dieses Abschnittes kann man Analogien zu Dürrenmatts „Die Physiker“ finden. Zum Beispiel, das Thema des wissenschaftlichen Missbrauchs und der moralischen Verantwortung von Wissenschaftlern. Während Dürrenmatt die Gefahren der Kernphysik und die Verantwortung der Wissenschaftler thematisiert, nutzt Sorokin eine breitere Palette von wissenschaftlichen Missbräuchen, um ähnliche Fragen zu stellen. Beide Werke beleuchten die potenziellen Gefahren, die entstehen, wenn mächtige Technologien in die Hände von Einzelnen gelangen, die möglicherweise egoistische oder destruktive Ziele verfolgen.

Das fragile Gleichgewicht der Klinik wird jedoch jäh unterbrochen, als eine Atombombe das Sanatorium zerstört. In der Folge müssen Doktor Garin und sein Team extremen Maßnahmen ergreifen, um zu überleben. Sie aktivieren gigantische Bioroboter, die als Fluchtmittel dienen, und begeben sich auf eine surreale Flucht durch eine Welt, die sowohl absurd als auch gefährlich ist. Während dieser epischen Reise werden Garin und Mascha getrennt, was die narrative Spannung erhöht und ihre Charakterentwicklung vorantreibt.

Der Roman ist eine scharfe Satire auf die moderne Gesellschaft und die politische Landschaft, die durch die überzeichneten Darstellungen und die absurde Handlung hervorgehoben wird. Sorokin nutzt die dystopische Erzählung, um tiefgreifende Fragen über die Rolle der Technologie, die Natur der Macht und die Bedeutung der Menschlichkeit in einer zunehmend dehumanisierten Welt zu stellen.

Diese Veränderung im Charakter von Garin spiegelt eine tiefere Desillusionierung und möglicherweise eine Anpassung an die härteren Realitäten einer Welt, in der Atomkriege zur Normalität geworden sind. Garin, der durch die sibirische Wildnis zieht, begegnet den verschiedensten Gesellschaftsmodellen, die von autoritären Handwerkerdynastien bis zu anarchistischen Kommunen reichen. Die Reise durch die post-apokalyptische Landschaft Russlands ist sowohl eine physische als auch eine metaphorische Suche nach einem neuen Verständnis von Zivilisation und Menschlichkeit.

Politische und kulturelle Repressionen spiegeln die Aktualität dieses Romanes

Dieser Roman gewinnt besonders vor dem Hintergrund der aktuellen politischen und kulturellen Repressionen in Russland und den angrenzenden Regionen wie der Ukraine an Bedeutung.

Die kulturelle Zensur, die unterdrückende Kontrolle über die Literatur und die politischen Verfolgungen, die Autoren wie Sorokin erfahren, spiegeln die Themen von Unterdrückung und Widerstand wider, die in „Doktor Garin“ erkundet werden. Das Buch dient nicht nur als kritisches Kommentar zu den gegenwärtigen Zuständen, sondern auch als eine Art literarischer Widerstand gegen das Verschwindenlassen von Stimmen und das Verbot von kritischer Literatur, wie es derzeit in der Ukraine und Russland zu beobachten ist.

„Doktor Garin“ ist daher mehr als nur eine dystopische Fiktion; es ist ein aktueller Kommentar zur Macht der Literatur, die bestehenden politischen und sozialen Verhältnisse herauszufordern und zu hinterfragen. Es ist eine Einladung an den Leser, über die Rolle der Kunst als Werkzeug des Widerstands und der Selbstreflexion nachzudenken, gerade in Zeiten, in denen das freie Wort zunehmend unter Druck steht.

Sorokin wird zu Recht einer der großen russischen zeitgenössischen Autoren genannt, er atmet die Sprache der russischen Literatur postmodern wieder aus.

Ein kleiner Vergleich zu „Das Hyperboloid des Ingenieurs Garin“ von Alexei Tolstoi

Beide Garins sind Wissenschaftler, die ihre Erfindungen nutzen, um Macht zu erlangen, jedoch mit unterschiedlichen Auswirkungen und moralischen Lehren.

Tolstois Garin endet tragisch, ein Opfer seiner eigenen Hybris, während Sorokins Garin eine dystopischere Vision einer Welt bietet, in der ethische Überlegungen dem Machthunger geopfert werden.

Dabei ist Tolstois Roman ist ein Produkt der sowjetischen Ära und reflektiert die technologischen Ambitionen und Ängste seiner Zeit. Der Stil ist dem der Abenteuerliteratur und Science-Fiction der frühen 20. Jahrhunderts ähnlich.

Sorokins Werk hingegen ist postmodern und verwendet Elemente des Surrealismus und der Groteske, um zeitgenössische Themen zu beleuchten.

Beide Autoren nutzen ihre Werke, um vor den möglichen Fehltritten der menschlichen Zivilisation zu warnen – sei es durch unkontrollierte wissenschaftliche Experimente oder durch den Verlust ethischer und moralischer Werte in der modernen Gesellschaft. Ihre Geschichten bieten keine Lösungen oder Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, sondern fungieren eher als Mahnmale und Reflexionsflächen für das Lesepublikum.

Diese literarische Herangehensweise, bei der bewusst auf eine positive Auflösung verzichtet wird, kann dazu dienen, den Leser zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit den präsentierten Problemen zu bewegen. Sie zeigt auch, dass die „russische Seele“ in der Literatur nicht nur durch eine Suche nach Bedeutung oder melancholische Resilienz gekennzeichnet ist, sondern auch durch eine tiefe Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Gefahren, die der menschliche Ehrgeiz mit sich bringen kann.

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