Der Hase

Vorlesen

Es war Sommer. Beim Spazieren begegnete ich einem Häschen auf

dem Rasen. Jeder weiß, was für eine Freude so ein Tier auf

freiem Fuß zu beobachten. Wieso denn? Weil er leidenschaftslos und

unschuldig ist und aus Willen Gottes lebt. Und plötzlich wird dir klar,

was für ein Biest ein Mensch ist, und nicht die schlimmsten

Mörder, sondern besonders modische Frauen. Eine Leere in sich.

Der Hase, der mich bemerkte, wollte sich niedlich davonmachen, aber ich

sagte ihm: Halt, ich bin kein Wolf, ich werde dich nicht auftafeln.

Erst später wurde mir klar, dass Menschen schlimmer für ihn

sind als Wölfe, und er respektiert nur ihr verzerrtes Gottesbild.

Der Hase erstarrte wie ein ausgestopftes Tier aus einem biologischen

Museum, ohne einen einzigen Muskel zu bewegen.

Ich wünsche dir wirklich nichts Böses. Ich liebe dich, —

sagte ich leise.

Und plötzlich hörte ich seine Stimme in mir:

— Ich muss vorsichtig sein.

Das überraschte mich, aber ich fuhr schnell fort:

— Wie kannst du überleben?

— Ja, dir, einer sorglichen Person, ist es schwer zu verstehen.

Ich esse Gras und verstecke mich im Winter. Ich bin mit allem zufrieden.

— Warum denkst du, dass wir Menschen das nicht können?

— Christus lehrte euch, um nichts zu kümmern, und er führte

Vögel und andere Tiere als Beispiel an. Ihr solltet von uns lernen.

— Kennst du Christus?

— Wie sonst, er ist mein Schöpfer.

Und du liebst ihn?

Ja. Mehr als mein Leben.

Obwohl er erlaubte, dich zu essen?

Wir, Tiere, opfern unser Fleisch für unaufgeklärte Menschen,

wie Christus sein Fleisch für Christen opfert. Die Erleuchteten

brauchen kein Fleisch zu essen, sie ernähren sich im Sakrament vom

göttlichen Fleisch Christi.

— Woher hast du eine solche theologische Weisheit?

— Theologen sind bloß nur Schwätzer, aber wir Tiere, die Gott

dem Schöpfer gehorsam sind, theologisieren wie es gehört mit

unserem ganzen Leben. Deshalb brachte uns Christus für Menschen als

ein Vorbild zum Nachahmen.

Aber ihr stummen Tiere habt keine Seele, und ihr könnt Gott nicht

verherrlichen?

Wie stumm, wenn du mich hören kannst? Ihr seid es, die denken,

dass wir unvernünftig seien, keine Seele hätten, und deshalb

können Gott nicht preisen. Wie hat dann Christus befohlen, dass auch

uns, Tieren, das Evangelium gepredigt werden soll? „Verkündet das

Evangelium der ganzen Schöpfung!“ — sagte Er. Und Hl. Franziskus

hat es durchgezogen.

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:

Wir sind die stillen Lehrer der Menschen. Und sie merken es nicht. Viele

Heilige, die uns nachahmen, blieben auch ihr ganzes Leben lang stumm und

lebten so wie Tiere durch einen Tag aus, ohne sich um irgendetwas zu

kümmern, und ernährten sich allein mit Kräutern. Und

nach einer Pause:

— Die Verherrlichung Gottes liegt nicht nur im äußeren Wort,

sondern vor allem im Heiligen Leben, und im Herzen – schloß das

Häschen seine Predigt ab.

Dabei bewegte er sich keinmal und blieb in einem erstarrten Zustand.

Ich dachte, dass dies alles wahrscheinlich meine Gedanken waren und nicht

des seelenlosen Hasen. Gedanken wie manche Reflexion über

die parallele Tierwelt. Und ich machte eine leichte Bewegung in seine

Richtung. Wie er sprang sofort zur Seite und im Zickzack, komisch funkelnd

mit seinem weißen Hintern, rannte Richtung der Büsche, bis es

ganz verschwand. Ich brach sogar ins Gewieher aus, denn so passten seine

amüsanten Fouetté nicht zu der vorherigen nachdenklichen Theologie.

Aber dann schlug sofort meine Stimmung um, und mir dämmerte, dass

die Tiere, in der Tat, heute die einzigen Heiligen sind, die uns Trost spenden

können in dieser antichristlichen Zeit.

Gefällt mir
2
 

Weitere Freie Texte

Freie Texte

Masha Ubben: Mindesthaltbarkeitsdatum

Masha Ubben

"Haltbar bis" heißt nicht "tödlich ab", Schmeiß nichts direkt weg, mach den Geruchstest vorab. Aber bei Fleisch sollte man doch vorsichtig sein, Wiese sollte es anders bei meinem sein? Hat die Verwesung begonnen, ist nichts mehr zu retten, Weder Hühnchenbrust, Wurst noch Buletten. Zu stoppen ist der Prozess nur noch mit Kälte, Wie ich am eigenen Leibe feststellte. Doch das ist kein Leben, in der Tiefkühltruhe, Im ewigen Schmerz des Verfalls zu ruhen. Sie tun als hätten Menschen kein Ablaufdatum, ...
Freie Texte

Masha Ubben: Hibernating Feelings

Masha Ubben

There are these feelings slumbering in me. Sometimes they wake up from their hibernation, Do good and do bad for a while, And create a world of difficult relations. They inspire my heart, but drain my soul, They fuck with my head but won´t let me go, They raise me high just to blare me down. How can feelings make you their slave, When they are supposed to be a part of you? Can you really enslave yourself Or is there someone else doing it for you? But gladly feelings need food to survive, So they ...
Freie Texte

Arimas Mmar: Demmin 1945

Arimas Mmar

Ich liege allein, in Asche und Rauch Frag mich, wer mich heute noch brauch. Die Feuer sie brennen am Horizont Lichterloh Sehe die Flamme des Himmeltor Sehe die Stadt, wie meine brennt Schüsse in der Ferne Kinder schreien neben mir Weine nicht, oh weine nichtan Damals hörte man ihre Schreie nur doch den Soldaten war es egal was die deutschen taten Rächen würden sie sich mit gleichen Taten „Aber ich bin so jung ich will noch leben!“ Schreit ein Mädchen aus allen Ebenen Die Mutter sie erwacht ...
Freie Texte

Pauline Kulow: wo ist der Sommer hin?

Pauline Kulow

der sommer indem mohnblumen deine liebsten blumen waren und wir lachend auf der wiese lagen meine lieblingsfarbe war grün, wenigstens das ist gleich geblieben ich spür die rote abendsonne unter der wir auf unser'm dach saßen noch immer auf meiner kalt gewordenen haut rot war mal deine lieblingsfarbe, ist sie das immernoch? oder ist doch tatsächlich alles anders als im letzten november? im letzten november lagen wir auf unserem dach und starrten,von der roten abendsonne aufgewärmt, in die bald ...
Freie Texte

Irena Habalik: Kein Löwenzahn

Irena Habalik

75 Fenster siehst du gegenüber, 75 Fenster sehen dich (bei Rilke in Paris waren es 45) vergitterte verkreuzte vernebelte verlassene verträumte verwunschene Wie die Reihenhäuser nebeneinander geordnet ehrgeizig nach oben streben Zwischen den Fenstern die Hälfte des Jahrhunderts atmet still als ob nichts geschehen ist Dahinter Gardinen, gestreifte, gezackte karierte und manchmal zwei Augen Die Stadt gibt sich erleichtert an ihren Schläfen glänzen Schweißperlen Die Stadt wünscht dir alles ...
Freie Texte

Paweł Markiewicz: Ein Tag aus dem Leben Klaus Werner Moormanns

Pawel Markiewicz

Es kam der schöne Winter an mit zärtlichem Heiligabend Klaus Werner Moormann harrt des Traums hehrer Moment wird offenbart Klaus ein Waldheger wohnt allein im lichten Haus mitten im Hain Am Abend betend beim Tische genoss er Frieden der Ruhe Rätselhafte Wesen kommen nachdem Saatkrähe besucht hat Die Saatkrähe weiß vom Raben dass es im Moor die Schätze sind danach klopft Hydra ans Fenster sie gibt den Obolus Werner Klaus verzaubert den Gast mit Satz: >Ewges Moor. Träume mit uns mit!< ...
Freie Texte

Susanne Ulrike Maria Albrecht: Ein Meer von Blumen

Unser aller Stolz, ein Park wie kein anderer; Kulturpark „Europas Rosengarten“. Er wurde im Juni 1914 von Prinzessin Hildegard von Bayern eröffnet. Rosenfreunde, allen voran der Landschaftsgärtnermeister Ludwig Stengel aus der Herzogstadt haben die prachtvolle Anlage geschaffen, die mitten in der Stadt liegt. „Europas Rosengarten“ ist eine Parkanlage ganz besonderer Art. In stilvoll gestalteter Umgebung von Gehölzen und Pflanzen, Teichen und Weihern, werden auf fünfzigtausend Quadratmeter über ...
Freie Texte

Irena Habalik: Es war einmal, er war einmal

Irena Habalik

Es war einmal, er war einmal, hatte eine Gitarre hatte eine Stimme wie Balsam einen Sohn hatte er, Zweifel, Hoffnung sang und sang gegen Zweifel, sang einen Song für die Hoffnung, für den Sohn Wir sangen mit, mal leise, mal laut, lauter ein Lied über die Wolken, wir erhoben die Hände wollten fliegen mit dem Lied, wollten höher und noch höher, wollten die kalte, graue Welt hinter uns lassen wollten das All in Worte fassen und sie da oben nahmen das Lied weiß, blau gierig, nahmen es für das ...
Freie Texte

Die unbändige Sucht der Freiheit im Strom einfach so

UpA

Da geh ich nun einfach so- Einfach über Gewirr von Pflanzen und Stein- Entlang des Stroms nur einfach so Kein Sinn noch Verstand- Einfach über Gewirr von Pflanzen und Stein- Mit dem Strom einfach so Leuchtend warm das Gesicht bedeckt- Einfach über Gewirr von Pflanzen und Stein- Hörend den Strom einfach so Salzige Luft leicht in der Lunge- Einfach über Gewirr von Pflanzen und Stein- Fühlend die Sucht einfach so die unbändige Sucht der Freiheit im Strom- Einfach über Gewirr von Pflanzen und Stein- ...

Aktuelles