Während innerhalb öffentlicher Debatten immer häufiger von einer erodierenden Gesellschaft, sich zunehmend verhärtenden Grabenkämpfen und gefährlicher Spaltung die Rede ist, lenkt ein Teil derer, die derzeit eigentlich mit der Lösung des Nah-Ost-Konfliktes beschäftigt zu sein scheinen, ihre Aufmerksamkeit auf die Jagd eines öffentlichen Intellektuellen, der vor nicht allzu langer Zeit über ebenjene Dynamiken schrieb, die sich im Zuge dieser Hatz nun ein weiteres Mal auf unerträgliche und alarmierende Weise Bahn brechen. Ihren Anfang nahm diese Hatz vor etwa zwei Wochen, als der Publizist Richard David Precht in seinem gemeinsam mit Markus Lanz betriebenen Podcast behauptete, es sei orthodoxen Juden aus religiösen Gründen verboten zu arbeiten -"Ein paar Sachen wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen."
Prechts Aussage ging wie ein Lauffeuer zunächst durch die sozialen, dann durch alle anderen Medien. Aus einer fragwürdigen Äußerung, die antisemitische Klischees bedient, wurde über Nacht eine bewusst antisemitische Aussage, aus einer bewusst antisemitischen Aussage schließlich ein aussagender Antisemit, dem man das öffentliche Sprechen besser heute als morgen verbieten sollte. Nur folgerichtig also, dass Prechts anschließende Entschuldigung, er habe den tatsächlichen Sachverhalt "falsch und schief dargestellt", als die Stellungnahme eines Akteurs bewertet wurde, mit dem man im Grunde bereits abgeschlossen, der sich nur noch einmal - für viele längst einmal zu oft - zu Wort gemeldet hatte.
Pseudo-Journalismus und persönliche Meinung
Die Konsequenzen sind hinreichend bekannt: Precht gab seine Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana-Universität auf. Eine Entscheidung, der Beschwerden des Studierenden-Parlaments der Universität vorausgegangen waren. Zum Blattschuss angelegt hatten dann kürzlich der nordrhein-westfälische Medienminister Liminski (CDU) und der bayerische Antisemitismusbeauftragte Spaenle (CSU), die vom ZDF - dem Produktionssender des Podcasts "Lanz & Precht" - Konsequenzen forderten. Die Rede war hier unter anderem von Pseudo-Journalismus, der mit einer persönlichen Meinung vermischt werde (Liminski). Eine entsprechende Prüfung wurde mittlerweile vom Sender eingeleitet.
Im Zweifel gegen den Angeklagten
Im Windschatten dieser Hatz, der sich selbstverständlich auch die satirischen Spaßmacher des Landes in Windeseile angeschlossen hatten, lässt sich die Dynamik einer affektgeleiteten Vorverurteilung ausfindig machen, ein Urteilen also, das ohne Anhörung des Angeklagten auskommt. Zweifel an der absoluten Schuld gibt es dabei selten. Dort, wo sich auch nur die Möglichkeit eines Abwägens leise am Horizont auftut, stößt der Nebenmann schon harsch den Ellenbogen in die Hüfte, erinnert an das Diktum: Im Zweifel gegen den Angeklagten.
Dass Aussagen, selbst wenn sie an sich in Gänze zu kritisieren, ja zu verurteilen sind, nicht zugleich als Grund für die ganzheitliche Verurteilung der aussagenden Person herhalten sollten, gerät dabei oft in Vergessenheit. Diese Tendenz, das Große im Namen eines diesem Großen inhärenten Kleineren abzuurteilen, zeigt, wie tief die Shortcut-Mechanik ist den Diskurs eingedrungen ist. Dort, wo Akteure aufgrund einiger ausgewählter Äußerungen stillgelegt, Filme mit Verweis auf einzelne in ihnen enthaltende Szenen als indiskutabel abgetan werden, haben wir es mit einer reduktiven Auf-Klick-Haltung zu tun, die für tieferes Debattieren, deliberatives Beratschlagen und argumentatives Abwägen kaum mehr Platz lässt. Damit aber schwebt mehr als nur diese oder jene gerade ins Visier genommene Person in Gefahr. Viel mehr geht es dann um die Grundfesten unserer liberalen demokratischen Ordnung, deren Aufrechterhaltung nicht zuletzt geduldiges Beschauen sowie ein gewisses Interesse an Gegenpositionen voraussetzt. Dies gilt vor allem und insbesondere dort, wo diese Gegenpositionen ein tatsächliches Dagegen bilden, mehr sind, als ein Abweichen innerhalb des selben Meinungskorridors.
Der Tumult um die Person Richard David Precht führt abermals vor Augen, dass es, zumindest was die öffentlichen, repräsentativen Debatten anbelangt, kaum mehr Platz für solcherlei Bewegungen zu geben scheint. So zielten bereits vor dem Antisemitismus-Eklat geäußerte Kritiken zuvorderst auf die Person Precht. Selten bis gar nicht hatte man sich dabei mit Inhalten befasst, erschöpfte sich in Aussagen über Eitelkeit, Selbstgewissheit und Überheblichkeit und machte sich somit an rein formale und performative Aspekte zu schaffen, um eine Position zu delegitimieren, die offenkundig genügend Stoff für inhaltliche Auseinandersetzungen bietet. Machen wir es dort kurz, wo die Verkürzung der Debatte zuträglich ist; sagen wir: Richard David Precht ist eitel, überheblich, selbstgewiss. Sagen wir: Richard David Precht liegt nicht immer richtig. Vielleicht können wir uns dann wieder, nachdem diese kindischen Banalitäten endlich aus dem Weg geräumt sind, in aufrichtiger und ernstzunehmender Weise dem Inhalt zuwenden.