Dirk Oschmann: "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung" Tag der Deutschen Einheit: Ein Fest der Erfinder?

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Ist der Osten eine Projektionsfläche des Westens? Eine Ansammlung der "Anderen", die nachziehen müssen? Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann geht diesen Fragen nach. So wichtig wie unangenehm. Bild: Hanser Verlag

Zum 33. Mal feiert Deutschland die Wiedervereinigung. Wer sich mit dem rein symbolischen Gehalt dieser Chiffre zufriedengibt, könnte jetzt gratulieren, beglückwünschen und einen freien Tag genießen, unbehelligt davon, dass diese sterilen Begriffe "Deutschland" und "Einheit" heute wackliger erscheinen, als es im vergangenen Jahr noch der Fall gewesen war. Ängstlich blickt man auf die kommenden Landtagswahlen im Osten der Republik, wo die AFD aktuell in vier Bundesländern die 30 Prozent Marke überstiegen hat. Und wieder - nach jahrzehntelangen Diskussionen über Vermögensverteilung, Lohnunterschied, Abwanderung und Aufstiegschancen - fragt sich der ein oder die andere: Wie konnte das nur passieren? Eine bequeme Frage, auf die man, nicht ganz so bequem aber damit auch weniger verzerrt, mit dem Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann antworten kann, der mit "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung" eines der bislang wichtigsten, deutschsprachigen Sachbücher des Jahres geschrieben hat.

Die deutsche Wiedervereinigung ist, neben dem Nationalsozialismus, das wichtigste historische Bearbeitungsmaterial der deutschen Nachkriegsliteratur. Auf unterschiedlichste Weise gingen Autorinnen und Autoren mit diesem einschneidenden Geschichtsabschnitt in ihren Arbeiten um. Während DDR-Autoren wie Heiner Müller und Christa Wolf sich mit Blick auf die Wiedervereinigung gegen eine Verkapitalisierung des Ostens richteten, prangerten andere Autoren, allen voran der Liedermacher Wolf Biermann, den systematischen Freiheitsentzug und das bloß illusionäre antifaschistische Narrativ des Regimes an. Westdeutsche Autoren wie Walser und Grass legten die Wiedervereinigung indessen in die noch immer nicht gänzlich geleerte Schablone des Nationalsozialismus und sprachen, in ironischer Überhöhung, von einem "neuen Großdeutschland".

Eine westdeutsche Erfindung

Der Tag der Deutschen Einheit kennzeichnet damals wie heute einen neuralgischen Punkt, eine Aufgabe, der wir, blicken wir auf die aktuellen politischen und gesellschaftliche Verwerfungen, offenbar allzu wenig Aufmerksamkeit widmeten. Immer wieder werden Stimmen laut, die in Frage stellen, ob fernab des Papiers überhaupt von Einheit die Rede sein kann. Der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann wählt in seinem Buch "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung" einen anderen Einschlag. Er fragt: "Wenn Einheit, dann wessen?"

Oschmannsgeht davon aus, dass der Westen den Osten als Projektionsfläche gebraucht, um das eigene Narrativ aufrechtzuerhalten. Dieses Narrativ, entstanden mit der Deutschen Teilung 1949, ist das der Norm. Um dieses Norm-Narrativ zu stabilisieren und zu reproduzieren, bedarf es des wiederholten Verweises auf ein Außerhalb der Norm, die Selbstidentifikation verläuft über die Abgrenzung. Aus westdeutscher Perspektive ist das Außerhalb der Norm der Osten. Die dominante, ausschließlich westdeutsch perspektivierte Geschichte, so Oschmann, laute, "dass Deutschland im Gefolge des Zweiten Weltkriegs in BRD und DDR geteilt wurde, wobei die BRD ‚Deutschland’ blieb, während die DDR als ‚Ostzone’ oder einfach nur als ‚Zone’ erschien." Nach dem Mauerfall 1989 gilt der Osten laut Oschmann als derjenige Teil der Bundesrepublik, der "aufholen und sich normalisieren muss".

Hinzukommt eine zumeist aus westdeutschen Gefilden hervorgehende Diskursmacht. Dies berührt nicht nur die nahe liegende Frage, wer wie und auf welche Weise über den Osten spricht, sondern auch den Umstand, dass hinsichtlich ost-westdeutscher Konflikte nur selten dezidiert über den Westen gesprochen wird. Mit Blick auf die kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen der Bundesrepublik lässt sich sagen, dass Spitzenpositionen immer noch größtenteils von Westdeutschen besetzt werden. Nur zwei von dreihundert solcher Positionen fallen auf Ostdeutsche. Noch eklatanter zeigt sich dieses Ungleichgewicht mit Blick auf die Privatmedien. Hier sitzen nahezu ausschließlich Westdeutsche in den Chefpositionen.

Wer spricht?

Und damit kristallisiert sich ein weiteres, grundlegendes Problem. Demokratien leben und erhalten sich vor allem auf der Grundlage deliberativer Prozesse. Diskurs, Austausch, Miteinbezug und Meinungsbildung müssen lebendig, erratisch verlaufen, sich der Eindimensionalität entziehen. Wenn die Sache nun aber so liegt, dass die mediale Berichterstattung, als das wohl wichtigste Sprachrohr der Deliberation, das heißt der öffentlich performten Meinungsverschiedenheit, im Kern einseitig besetzt ist, dann wird es schwierig sein, multiperspektivisch über den deutschen Ost-West-Konflikt zu berichten. Dann spricht letztlich der Westen über den Osten. Der Westen mit dem Osten. Der Westen für den Osten. Der Westen gegen den Osten. Dann bezieht der Westen den Osten mit ein, bieten dem Osten Raum, macht Platz für den Osten. Das Problem liegt hierbei nicht beim Sprachinhalt, sondern bei der Sprachhoheit.

Wenn diese nicht anders zu gewinnen ist, wenn man sich nicht darauf einlassen, sich nicht herablassen möchte, einen gütigerweise freigeräumten Platz einzunehmen, sucht man diese Sprachhoheit an anderen Orten. Oft ist dieser andere Ort die Straße, wo Frust und Unmut vor den Augen der Öffentlichkeit und für jedermann lesbar preisgegeben werden. Bedauerlicherweise lesen auch Rechtspopulisten mit.


Dirk Oschmann: "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung" / Ullstein Verlag / 224 Seiten / 19,99 Euro


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