Die Jury des diesjährigen Deutschen Buchpreises hat die sechs Titel umfassende Shortlist bekanntgegeben. Im Finale stehen unter anderem Terézia Mora, Anne Rabe und Sylvie Schenk. Thematisch bewegen sich die ausgewählten Romane zwischen eingängiger Identitätsbearbeitung und der Zerrissenheit zwischenmenschlicher Beziehungen.
Die langerwartete Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 steht fest. Im Finale stehen Necati Öziri mit seinem Roman "Vatermal", Terézia Mora mit "Muna oder Die Hälfte des Lebens", Anne Rabe mit "Die Möglichkeit von Glück", Tonio Schachinger mit "Echtzeitalter", Sylvie Schenk mit "Maman" und Ulrike Sterblich mit "Drifter".
Auf den ersten Blick hätten die ausgewählten Bücher nichts miteinander zu tun, erklärte Jurysprecherin Katharina Teutsch. "Sie spielen zu unterschiedlichen Zeiten, beschreiben unterschiedliche Milieus in unterschiedlichen Ländern und finden dafür die je überzeugendsten Ausdrucksmittel." Würde man die Romane jedoch nebeneinander legen, kämen sie unweigerlich miteinander ins Gespräch. "Dieses Gespräch handelt von unseren Prägungen: von Erziehung und sozialer Herkunft, von politischen Ideologien, von dramatischen Systemwechseln und den Härten der Migration – von all dem also, was unsere Gegenwart ausmacht und herausfordert», sagt Teutsch. «Darüber wird mit so viel Scharfsinn, aber auch Witz und Wärme geschrieben, dass wir uns nach der Lektüre dieser Shortlist nicht nur die Frage stellen, wo wir herkommen, sondern auch wo wir hinwollen."
Das sagt die Jury zu den Shortlist-Büchern
Mit Terézia Mora steht eine Autorin in der Endauswahl, die bereits einen Deutschen Buchpreis gewonnen hat. 2013 konnte Mora mit ihrem Roman "Das Ungeheur" überzeugen. In diesem Jahr steht sie mit "Muna oder die Hälfte des Lebens" im Finale; ein Buch, welches von der Bissigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen erzählt. "Moras schnörkellose, lakonische Prosa entfaltet vom ersten Satz an einen Sog, dem man sich nicht entziehen kan", so die Jury.
Der Autor Necati Öziri beschreibt in seinem Roman "Vatermal" eine deutschtürkische Biografie über die Abwesenheit eines Vaters. Wütend, schlagfertig, witzig und zart, wie die Jury meint. Die jugendlichen Helden suchten Orientierung in einer Gesellschaft, "in der sie nie wirklich ankommen".
Anna Rabe erzählt mit "Die Möglichkeit von Glück" eine ostdeutsche Migrationsgeschichte, in der das Chaos der Wende- und Nachwendezeit sowie die Eskalation der Gewalt der 1990er Jahre zum Tragen kommt. Die Jury spricht von einer scharfen Analyse und einem aufrüttelnden "Beitrag zu aktuellen Debatten über die Ursprünge von Gewalt und Menschenfeindlichkeit".
Der in Wien lebende Autor Tonio Schachinger hat mit "Echtzeitalter" eine ausgeklügelte Coming-of-Age-Geschichte geschrieben, die den Zerfall einer Familie, die Kraft der Freundschaft, die erste große Liebe und einen diabolischen Klassenlehrer thematisiert. Laut Jury gelingt ihm dabei das Kunststück, "als Coming-of-Age-Roman ebenso einfühlsam wie dezent zu sein". Der Roman sei stilistisch brillant, aber niemals aufdringlich.
Sylvie Schenk liefert mit "Maman" eine Spurensuche, die über die Lebensgeschichte ihrer Mutter bis zu den Wurzeln ihrer Familie führt. Dabei verwebe Schenk auf kunstvolle Weise Fakten und Fiktionen, so die Jury. Dabei entstehe "ein stiller Text voller Wucht, der ohne Sentimentalität, aber mit großem Einfühlungsvermögen und historischer Neugier das zu erkunden versucht, was wir Herkunft nennen".
Die Berliner Politologin und Autorin Ulrike Sterblich geht mit ihrem Roman "Drifter" an den Start. Hierbei handle es sich lauf Jury um eine bitterböse Satire auf den Literaturbetrieb, die PR-Branche, Kunst, Social Media, Aktienmanager und Heldenverehrung. Zugleich erzähle Sterblich die Geschichte einer tiefen Männerfreundschaft. Der Roman sei "eine meisterhafte Geschichte über das große Nichts".
Die Romane im Überblick
Terézia Mora - "Muna oder die Hälfte des Lebens"
Muna liebt Magnus. Ob und wen Magnus liebt, ist schwer zu sagen. Was geschieht mit einem Leben, das man in Abhängigkeit von einem anderen führt? Muna steht vor dem Abitur, als sie Magnus kennenlernt, Französischlehrer und Fotograf. Mit ihm verbringt sie eine Nacht. Mit dem Mauerfall verschwindet er. Erst sieben Jahre später begegnen sich die beiden wieder und werden ein Paar. Muna glaubt, in der Beziehung zu Magnus ihr Zuhause gefunden zu haben. Doch schon auf der ersten gemeinsamen Reise treten Risse in der Beziehung auf. Im Laufe der Jahre nehmen Kälte, Unberechenbarkeit und Gewalt immer nur zu. Doch Muna ist nicht gewillt aufzugeben. (Verlagsankündigung)
Necati Öziri - "Vatermal"
Necati Öziri schreibt eine Familiengeschichte über einen Sohn, eine Mutter und eine Schwester, deren Leben und Körper gezeichnet sind von sozialen und politischen Umständen. Und er schreibt über einen abwesenden Vater. Ein Roman von radikaler Wahrheit, Wut, Kraft, Liebe und Sehnsucht. (Verlagsankündigung)
Anna Rabe - "Die Möglichkeit von Glück"
Stine kommt Mitte der 80er Jahre in einer Kleinstadt an der ostdeutschen Ostsee zur Welt. Sie ist ein Kind der Wende. Um den Systemwechsel in der DDR zu begreifen, ist sie zu jung, doch die vielschichtigen ideologischen Prägungen ihrer Familie schreiben sich in die heranwachsende Generation fort. Während ihre Verwandten die untergegangene Welt hinter einem undurchdringlichen Schweigen verstecken, brechen bei Stine Fragen auf, die sich nicht länger verdrängen lassen. Anne Rabe hat ein ebenso hellsichtiges wie aufwühlendes Buch von literarischer Wucht geschrieben. Sie geht den Verwundungen einer Generation nach, die zwischen Diktatur und Demokratie aufgewachsen ist, und fragt nach den Ursprüngen von Rassismus und Gewalt. (Verlagsankündigung)
Tonio Schachinger - "Echtzeitalter"
Ein elitäres Wiener Internat, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, der Klassenlehrer ein antiquierter und despotischer Mann. Was lässt sich hier fürs Leben lernen? Till Kokorda kann weder mit dem Kanon noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft sind Computerspiele, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2. Ohne dass jemand aus seiner Umgebung davon wüsste, ist er mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Nur: Wie real ist so ein Glück? (Verlagsankündigung)
Sylvie Schenk - "Maman"
Eine Annäherung an die eigene Mutter und eine schmerzhafte Abrechnung: 1916 wird Sylvie Schenks Mutter geboren, die Großmutter stirbt bei der Geburt. Angeblich war diese eine Seidenarbeiterin, wie schon die Urgroßmutter. Aber stimmt das? Und welche Geschichte wird den Nachkommenden mit auf den Weg gegeben? Als Kind leidet Sylvie Schenk unter dieser Unklarheit, als Schriftstellerin ist sie deshalb noch immer von großer Unruhe geprägt. Mit poetischer Präzision spürt sie den Fragen nach, die die eigene Familiengeschichte offenlässt. „Maman“ ist waghalsiges Unterfangen und explosive Literatur zugleich. Nach „Schnell, dein Leben“ hat die Autorin erneut einen Text voll Schönheit und Temperament geschrieben. (Verlagsankündigung)
Ulrike Sterblich - "Drifter"
Wenzel und Killer sind Freunde seit Ewigkeiten und stehen mitten im Leben, Killer als PR-Chef einer großen Firma, Wenzel betreut die Social-Media-Kanäle eines TV-Senders. Doch alles ändert sich, als Vica in ihr Leben tritt: eine Frau in goldenem Kleid, meist begleitet von zwei treuen Adjutanten und einem riesigen Zottelhund. Mit jeder Begegnung ploppen neue Fragen auf: Woher weiß sie so viel über Wenzel und Killer? Wieso besitzt sie ein Exemplar des neuen Buchs von Drifter, einer ominösen Schriftstellerfigur, obwohl es überhaupt noch nicht auf dem Markt ist? Und wo hat ihr Hund das Tanzen gelernt? Als Vica schließlich auch noch den Wohnblock ihrer Kindheit in Beschlag nimmt, gerät die Welt der beiden Freunde ins Wanken. Virtuos, ja geradezu fantastisch erzählt Ulrike Sterblich von zwei Freunden, deren Wirklichkeit sich zunehmend verschiebt. (Verlagsankündigung)
Der Deutsche Buchpreis 2023
Der Deutsche Buchpreis wird am 16. Oktober zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse verliehen und ist mit 25 000 Euro dotiert.