Vor einigen Monaten entflammte eine heftige Debatte um den Roman "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen. Der Grund: Das Buch sollte ab 2024 Pflichtlektüre an baden-württembergischen Gymnasien werden. Als eine Ulmer Lehrerin während der Vorlektüre über einhundert Mal das N-Wort zählte, war sie geschockt und schmiss ihren Job hin. Medial diskutierte man, welche Lektüre Schülerinnen und Schüler zuzumuten sei. Jetzt machte das baden-württembergische Kultusministerium ein seltsames Versöhnungsangebot.
Abiturienten an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg sollten ab 2024 den Roman "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen als Pflichtlektüre lesen. Eine Setzung, auf welche die Ulmer Lehrerin Jasmin Blunt nun mit einer Kündigung reagierte. Grund war das rassistische Vokabular, auf welches sie während der Vorlektüre stieß. Etwa einhundert Mal zählte Blunt das N-Wort. Nachdem sie öffentlich machte, den Roman im Unterricht nicht behandeln zu wollen, entflammte eine Debatte darüber, mit welchen Büchern man Schülerinnen und Schüler im Unterricht konfrontieren sollte. Obgleich einige Literaturwissenschaftler Blunts Vorstoß unterstützten, hielt die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) weiter an dem Vorhaben fest, den Roman zur Pflichtlektüre zu machen. Nun formulierte das verantwortliche Ministerium einen Vorschlag, der den Streit beilegen soll.
Anna Seghers als rettende Alternative
Ab dem Abitur 2025 soll es nun in der Entscheidungsgewalt der Lehrkräfte (an beruflichen Gymnasien) liegen, ob sie mit ihren Schülerinnen und Schülern Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" (1951), oder Anna Seghers´ Exilroman "Transit" (1947) im Unterricht behandeln. Vier Jahre liegen die beiden Werke auseinander. Inhaltlich und formal trennen sie Welten.
Während Koeppen in "Tauben im Gras" einen einzigen Tag der Nachkriegszeit in München schildert, erzählt Seghers in "Transit" die Geschichte einer Flucht vor den Nazis. Während Koeppen in einer metaphorisch aufgeladen, modernen Sprache erzählt, haben wir es bei Anna Seghers mit einer traditionellen Erzählform zu tun. Bei Koeppen werden die bösen Geister der Nachkriegszeit in vielen Fragmenten heraufbeschworen, bei Seghers übersetzt sich der nationalsozialistische Terror eher eins-zu-eins. Die Wahl zwischen Koeppen und Seghers bedeutet darüber hinaus, die Wahl zwischen äußeren Exil (Seghers) und innerer Reflexion (Koeppen).
Der Siegeszug des Signifikanten
In einem vor Monaten erschienenen Zeitungsinterview hatte die baden-württembergische Kultusministerium eingeschoben, man müsse, bevor man mit der Lektüre von Koeppens Roman beginnt, eingehender über den im Text enthaltenden Rassismus diskutieren. Eine Forderung, die sicher aus der Defensive heraus formuliert wurde, deren Umsetzung jedoch gerade an Schulen nicht unmöglich erscheint. Dass man nun Exilliteratur als Koeppen-Alternative anbietet, bedeutet auch, Koeppen als das Andere des Exils zu diffamieren, unfreiwillig in eine Ecke zu stellen, die dem Autor nicht gerecht wird. Diese Lesart - die ohne Frage selbst eine unzulängliche ist - ist eine beinahe selbstverständlich gewordene, in einer Welt, in der die Strahlkraft einzelner Symbole, Zeichen, Begriffe, die Diskussion über deren Inhalt erstickt. Das bedeutet: Das N-Wort in einem über 70 Jahre altem Roman scheint eine gewisse Rezeptions-Garde derart zu blenden, dass diese, augenblicklich erblindet, für keinerlei Diskussion mehr zur Verfügung steht. Das Wort schlägt den Text. Dem Dieb wird die Hand abgeschlagen, ohne zuvor die Gründe seines Diebstahls zu erörtern.
Das hier verhandelte Problem - die furchtbare Angst vor dem Signifikanten, also vor der bloßen Erscheinungsform des Wortes - geht weit über die geführte Schullektüre-Debatte hinaus und ist in sämtlichen gegenwärtigen Kulturkämpfen zu lokalisieren. Scheinbar fürchten wir uns allenthalben vor der Auseinandersetzung, da wir in der Auseinandersetzung selbst eine mögliche Assimilierung, eine Sympathisieren mit der vermeidlich falschen Seite fürchten. Im Nazis-Diskurs fürchten wir das Nazi-Werden der Diskutierenden, im Sexismus-Diskurs argumentative Querschläger, die ein sexistisches Vorgehen legitimieren könnten. Ein solche Furcht entlarvt Denkfaulheit. Wer aber selbst Denkfaul ist, sollte wenigstens versuchen, sein eigenes Ungenügen nicht anderen überzustülpen.
Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras" ist mehr als nur der Roman mit den N-Wörtern. Er ist auch einer von vielen Romanen, mit denen sich gegen Diffamierung und Ausgrenzung argumentieren lässt, ein Buch, welches zum Nachdenken anregt und deutlich macht, wie tief sich Menschenfeindlichkeit in Gemüter fressen und diese auf furchtbare Weise aushöhlen kann.