Bereits in der ersten, mit dem Titel "Rote Korallen" überschriebenen Geschichte ihres nunmehr 25 Jahre alten Debütbandes "Sommerhaus, später", hat die Schriftstellerin Judith Hermann herausgestellt, dass dort, wo etwas verschwiegen wird, auch eine unheimliche Produktivität herrscht. Nicht nur hinsichtlich der eigenen Sprache, der zurückgehaltenen Wörter, der wiedergestrichenen Sätze, sondern auch im Bezug auf das Schweigen eines Gegenübers, dessen ausbleibende Antwort Erregung, Wut, Frustration und - am Ende schließlich - eindrucksvolle Geschichten wie diese, "Rote Korallen", hervorbringen kann. "Sommerhaus, später" warf 1998 ein neues Licht auf die Bühne der deutschsprachigen Literaturszene. Diese freilich fackelte nicht lang, zerrte die damals 28 Jahre junge Autorin jäh ins Zentrum dieses Lichtes und verkündete: A Star is born. Die Rezeption bestätigte den Aufschrei; in Zeitung und Fernsehen las, sah und hörte man fortan Lobeshymnen erklingen: "... wunderbar gelassen erzählt", urteilte der Schriftsteller Burkhard Spinnen. Marcel Reich-Ranicki sagte der Autoren einen großen Erfolg voraus, Hellmuth Karasek sprach gar vom "Sound einer neuen Generation."
Vielleicht können wir heute, mit etwas Abstand, fragen, wie unpoetisch dieses Geschleife, dieses Um-jeden-Preis-ins-Lichte-der-Öffentlichkeit-rücken im Grunde gewesen ist; welch eine poetische Ruhe damit eventuell aufgerieben, welche eine noch unerzählte Geschichte unter Umständen vertrieben wurde. Denn Eines hatte bereits Hermanns frühe Prosa ganz offen gezeigt: Hier schreibt eine Autorin, deren Figuren und Themen sich fernab alltäglicher Debatten und Blitzlichtgewitter konstituieren. Bilder waren das, die, so ahnte man, in Großstadtschluchten ihre Anfänge genommen haben müssen, als Reste kleinster, alltäglichster Beobachtungen.
"Wir hätten uns alles gesagt" - Das Schreiben verhandeln
Dieses seltsam melancholische Unbehagen war dann auch in jenen Stücken anzutreffen, die nicht vom Szene-Jubel verscheucht wurden. Erzählungsbände wie "Nichts als Gespenster", "Aller Liebe Anfang" oder "Lettipark" hatten es geschafft, Begriffe wie Sehnsucht oder Einsamkeit zu entschlacken, sie ihrer schwer-romantischen Verve zu berauben und zurück in den kühlen, sensationslosen Alltag zu befördern. Dieser Alltag war es dann auch, der den Hintergrund in Hermanns 2021 erschienenen Roman "Daheim" bildete, in dem das Thema Rückzug in recht offensiver Weise verhandelt wurde. Nun, zwei Jahre später, erscheinen Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel "Wir hätten uns alles gesagt". Gewissermaßen als unbewusst gesetzter Anschluss an "Daheim", wie die Autorin im Literaturhaus Frankfurt während der Buchvorstellung andeutete. Wir erinnern uns: Am Ende des Romans öffnet die Erzählerin eine Falle, die sich direkt neben ihrem Haus am See befindet. "Sie öffnet sie und das Buch ist zu Ende", so Hermann. "Heute denke ich, dass das, was da aus der Falle herausgekommen ist, die Frankfurter Poetikvorlesungen gewesen sind".
"Eindrücke, Empfindungen, Gedanken, Ahnungen aus einem Damals."
Im Text beschäftigt sich die Autorin erstmals explizit mit dem eigenen Schreiben. Wie bei allen großen Autorinnen und Autoren bedeutet das, die eigene Familiengeschichte freizulegen. Satz für Satz abtragen, was da im Hintergrund tönt seit Jahrzehnten. So erfahren wir von einem stark depressiven Vater, der eine lange Zeit in der geschlossenen Psychiatrie verbrachte. Von einer schwermütigen, körperlich beeinträchtigten und von der Autorin sehr geliebten Großmutter, die eines Tages erklärt: "Du bist in ein Trauerhaus hineingeboren worden". Dieses Haus zu betreten, die "Tür zu der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, zu öffnen, bedeutete, im Geheimnis zu stehen."
Um über das Schreiben sprechen zu können, bedarf es das Überschreiten einer Schwelle. Während das Ingeborg Bachmann-Wort, alles Erzählen entspringe der Kindheit, noch nachhallt, verlautbart Judith Hermann: "Mein Schreiben ist an diese frühen Jahre gebunden. Eindrücke, Empfindungen, Gedanken, Ahnungen aus einem Damals. An die Konstitution einer Familie gebunden, deren Struktur ich nicht begründen werde."
Eine Aufforderung zur Relektüre
Gleich zu Beginn des Buches berichtet Hermann von einer zufälligen, privaten Begegnung mit ihrem Psychoanalytiker Dr. Gupka, der Leserinnen und Leser bereits aus dem Erzählband "Lettipark" bekannt sein sollte. Eine Begegnung, die als Fuß in der Tür gedeutet werden kann, denn der erzählende Schritt auf die Familie zu ist alles andere als eine Kleinigkeit. Schließlich nährt man sich hier Schritt für Schritt einem Ort, an dem hochpoetisches Material aufgebahrt liegt. Man flüstert, schleicht, will nichts ruinieren, nicht aufscheuchen, was sich dort in den Ecken womöglich verbirgt.
Daher auch Hermanns Klarstellung: Es handelt sich hierbei um eine Familienstruktur, die sie, die Autorin, nicht begründen wird. Vielleicht ist dieser Struktur erzählend überhaupt nicht beizukommen, vielleicht verwehrt sich die Autorin aus guten Gründen absichtlich. "Die Familie", schreibt sie, "ist nicht das einzig Ungeheuerliche, was Dir geschieht. Am Ende ist alles ungeheuerlich. Das Eigentliche, das Herz der Materie, ist an und für sich nicht erzählbar, das Zentrum ist ein unbetretbarer Ort."
Wir kreisen als um einen aufgeladenen Gegenstand, versuchend, dem Kern so nahe wie nur möglich zu kommen, wissend, dass wir ihn niemals erreichen können. In dieser Spannung konstituiert sich Judith Hermanns Erzählen. Den Lesern dürfte genügen, was hier geboten wird: Die Möglichkeit, in fremde familiäre Verhältnisse einzutauchen, Orte zu besichtigen, die der Schreibenden als Rückzugsort dienten und dienen - schließlich die Möglichkeit, biografische Wege abzuwandern, die von Erzählbarem gesäumt sind. Judith Hermann konfrontiert uns in "Wir hätten uns alles gesagt" mit kurz nur aufblitzenden Interieurs, vor deren Hintergrund sich wohl alle Hermann-Geschichten noch einmal zu lesen lohnen. Eine Aufforderung zur Relektüre.