Die Gesinnungsethik ist weiterhin auf dem Vormarsch. Kurzlebigen Reizen folgen vorschnelle, oft radikale Urteile - an die Stelle von Beratschlagung und Überprüfung tritt quirlige Spontanität. Im literarischen Terrain ist diese Dynamik oftmals dort anzutreffen, wo über die Trennung respektive Untrennbarkeit von Werk und Autor, über den Widerspruch zwischen Kunstfreiheit und Political Correctness gestritten wird. Zwei Debatten haben diesen Streit in den vergangenen Tagen wieder aufflammen lassen.
Auf der einen Seite ging es dabei um die Überarbeitung der Bücher des britischen Schriftstellers Roald Dahl. Die Ankündigung des Verlages Puffin Books, einzelne Umschreibungen und Begriffe des Autors abzumildern und durch weniger abwertende zu ersetzen, rief zahlreiche KritikerInnen - darunter den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie sowie die Vorsitzende des Schriftstellerverbandes Pen America Suzanne Nossel - auf den Plan, die den Eingriff des Verlags heftig angingen. Unweit der Dahl-Debatte hatte sich in der letzten Woche dann noch ein weiterer Disput aufgetan. Die in der Vergangenheit mehrfach mit Transphobie-Vorwürfen konfrontierte Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling sprach in dem Podcast "The Witch Trials of J.K. Rowling" über ihr Leben und Werdegang als Schriftstellerin, wobei sie vor zu schnellen Gewissheiten und einem daraus resultierenden "Schwarz-Weiß-Denken" warnte.
Kunstverstümmelung mit merkantilem Antlitz
Zwei Debatten also, die auf unterschiedliche Weise darstellen, mit welch einer Vehemenz künstlerische Inhalte mittlerweile angenehm konsumierbar und gut verdaulich gemacht werden sollen. Im Falle Roald Dahl´s zeigt sich das noch eklatanter. Hierbei geht es um knallharte, eigentlich unzumutbare Eingriffe in das Werk eines Künstlers, der sich, weil tot, gegen diese Art der Verstümmelung nich mehr zur Wehr setzen kann. Ziel dieser Verstümmelung sind laut Verlag Passagen, die sich auf Gewicht, psychische Gesundheit, Geschlecht und Rasse beziehen. So wurden beispielsweise alle Verweise auf Wörter wie "fett" und "hässlich" gestrichen. Puffin Books begründet seine Entscheidung halbmüde mit dem Argument, dass sich Sehgewohnheiten und Geschmäcker eben ändern. Dass der Verlag, nachdem das Vorhaben entschieden kritisiert wurde, kürzlich erst bekannt gab, neben der veränderten nun auch eine unveränderte Neuauflage drucken zu wollen, zeigt, mit welch einer Unbedingtheit merkantile Gesichtspunkte hier vor künstlerische Inhalte geschoben werden. Nur um das festzuhalten: Selbstverständlich muss ein Verlag den Verkauf seiner Bücher ins Zentrum stellen. Im Falle der Dahl-Debatte aber weitete sich dieses Zentrum nun so weit aus, dass es das Kunstwerk - welches das zu verkaufenden Produkt Buch ja nach wie vor ist - in einem unverhältnismäßig starken Maße zu beschneiden drohte.
Postmoderne Hexenverbrennung?
Bei J. K. Rowling liegt die Sache etwas anders. Hier wurde eine Autorin, nachdem sie sich auf Twitter zu genderspezifischen Themen geäußert hatte, zunächst als Privatperson angegriffen. Ob zu Recht oder zu Unrecht, soll hier nicht besprochen werden. Auch nicht, ob Plattformen wie Twitter überhaupt geeignete Diskurs-Orte für ernstzunehmende, weiterführende Auseinandersetzungen sind. Bedauerlich, ja bedrohlich war in jedem Falle die Dynamik, die sich laubfeuerartig aus diesen Angriffen entwickelte, und allzu schnell auf die Literatur Rowlings überschwappte. Es war dies jene vorschnelle Verurteilung, jenes "Schwarz-Weiß-Denken", welches die Autorin vergangene Woche in der ersten Ausgabe des Podcastes "The Witch Trials of J. K. Rowling" kritisierte.
Darin berichtet Rowling zunächst über markante Zwischenstationen ihrer eigenen Biografie, über die doch recht schwierigen Umstände, unter denen der erste Harry-Potter-Band entstanden ist. Anschließend zeichnet sie etappenweise den Weg einer Schriftstellerkarriere nach, die mit einem kometenhaften Aufstieg begann und mit dem endete, was bereits im Podcast-Titel als postmodernes Äquivalent zur mittelalterlichen Hexenverfolgung umschrieben wird. Twitter als Scheiterhaufen, quasi.
Die Angst vor der Suggestion
Sowohl in der groben Verfeinerung der Dahl-Texte, wie auch in den sich gegen Rowling wendenden Boykottaufrufen (denen im Übrigen Bücherverbrennungen und andere Ausschlussverfahren vorausgegangen sind) deutet sich so etwas wie die Angst vor Suggestion an; eine Angst vor dem Unkonkreten, Unbenennbaren, vor dem, was sich unberechenbar zwischen den Zeilen auftuen und sich mit klammheimlich böser Absicht in die Köpfe der Leserinnen und Leser schleichen könnte, um dort an ihren Weltanschauungen herumzuwerkeln. Es ist nicht das Werk, das diese Kritiker auf den Plan ruft. Es ist nicht der Frust während der Lektüre. Es ist die Vielseitigkeit, die Ambiguität einzelner Motive und Figuren, die ihnen - die sie sich alles greifbar und disambiguiert wünschen - Angst macht.
Hinter der Angst vor der Suggestion steckt nicht zuletzt ein mindestens pessimistisches Menschenbild. Abwägen und Reflektieren wird in dieser Perspektive als nahezu Unmögliches wahrgenommen. Kurz: Wenn J.K. Rowling in ihrem Krimi "Troubled Blood" den Bösewicht in Frauenkleidern darstellt, dann werden Millionen Leserinnen und Leser nicht in der Lage sein, aus diesem Bild etwas anderes als abgrundtiefe Transfeindlichkeit herauszulesen. Millionen Leserinnen und Leser werden der Autorin stumpf zustimmen, sich unreflektiert und fremdbestimmt in ihren Bann ziehen lassen und fortan nicht mehr darüber nachdenken können, wann und wie sie Vorurteile reproduzieren.
Und nicht vergessen: Kids, die in Roald Dahl Büchern mit den Worten "Fett" und "hässlich" konfrontiert werden, werden ihre Mitschülerinnen und -Schüler in einem fort ununterbrochen erniedrigen und beleidigen. Und diese Erniedrigten und Beleidigten, die, da sie, statt Roald Dahl Bücher zu lesen, bislang nur lupenreine TikTok- und Instagram-Accounts konsumiert haben, sind von dieser plumpen Reduktion auf ihre Körperlichkeit - etwas bisher vollkommen Unbekanntes - dermaßen verunsichert, dass sie augenblicklich die Schule abbrechen, zum Waffenschrank ihres Vaters rennen und eine ganz andere Form der Reduktion in die Tat umsetzen werden.