Stefan Schulz - "Die Altenrepublik" Demographie als Pionieraufgabe

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Deutschland ist alt. In diesem Jahr beginnen die Babyboomer in Rente zu gehen. Welche Herausforderungen bringt der demographische Wandel mit sich? Wie können wir umlenken? Darüber schreibt der Soziologe Stefan Schulz in seinem Buch "Die Altenrepublik" Bild: Hoffmann und Campe

In seinem Buch "Die Altenrepublik. Wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet" beschäftigt sich der Soziologe Stefan Schulz mit einem Problem, welches zwischen den vielen gegenwärtigen Krisenherden beinahe zu verschwinden droht. Deutschland ist alt. Während wir es in den kommenden Jahrzehnten auf der einen Seite mit immer mehr Menschen im Rentenalter zu tun haben werden, wird es auf der anderen an Nachwuchs fehlen. Welch gesellschaftliche Verwerfungen und Gefahren daraus resultieren, und wie wir uns dieser Pionieraufgabe am besten stellen könnten, zeigt Schulz auf eindringliche und nachvollziehbare Weise.

Es ist nicht allzu lang her, da sprach Bundeskanzler Olaf Scholz von einer sicheren Rente für junge Menschen. Wollte man diese Bemerkung auf den realpolitischen Prüfstand stellen und mit gegenwärtigen Tendenzen abgleichen, so käme man wohl zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei um eine der hanebüchensten Behauptungen in Scholz´ politischer Karriere handelt. Zugleich zeigte der Bundeskanzler mit seinem Satz - Rente muss es irgendwie auch noch in 50 Jahren geben -, was wir im politischen Betrieb tagtäglich zu Gesicht bekommen. Schnell ist man dabei, wenn es darum, zu betonen, was sein muss. Man vergisst dann eben nur zu erwähnen, welch systemische und systematische Veränderungen von Nöten sein werden, um das, was sein muss, umzusetzen. Das Muss muss reichen.

Scholz beispielsweise vergaß zu erwähnen, wie man eines der weltweit ältesten Länder verjüngen könnte? Er kam auch nicht auf die Idee, von den Herausforderungen zu sprechen, die der demographischen Wandel unter den aktuellen Bedingungen zwangsläufig mit sich bringt. Was etwa für den demokratischen Zusammenhalt auf dem Spiel steht, insofern wir nicht bereit sind, unsere Idee von Miteinander zu überdenken, zu erweitern oder - auch das - zu verwerfen und neu zu erfinden. Diese und weitere Problemstellungen geht der Soziologe Stefan Schulz in seinem Buch „Die Altenrepublik. Wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet“ an.

Ein altes Land

Obgleich Deutschland längst eines der ältesten Länder der Welt ist, scheint das Thema Alter hierzulande nach wie vor allerhöchstens Randthema zu sein. Dass wir uns dringend stärker mit ihm auseinandersetzen sollten, wird spätestens dann klar, wenn Schulz aufzeigt, wie groß die Lücke zwischen Jung und Alt in unserem Land bereits ist, und wie weit diese in den kommenden Jahren auseinanderklaffen wird. In diesem Jahr beginnen die Babyboomer, also die Jahrgänge ab 1958, in Rente zu gehen. Damit beginnt ein Prozess, der uns sieben Jahre später, im Jahr 2029, an einen Punkt führen wird, an dem 1,4 Millionen Menschen in Rente gehen werden, während nur 800.000 in den Arbeitsmarkt nachrücken.

Die Angst junger Menschen. Oder: Die vierstellige Monatsmiete

Schulz macht deutlich, dass es sich bei der Bewältigung des demographischen Wandels um eine Pionieraufgabe handelt, für die wir bisher kein Skript haben. Was die Bewältigungsvorschläge anbelangt, legt er einen starken Fokus auf die Pflege des Miteinanders, auf den Dialog zwischen Jung und Alt, der sich gegenwärtig nur selten im realen Leben antreffen lässt. Im mit „Angst und Oxytocin“ überschriebenen zweiten Kapitel zeigt der Autor diverse strukturelle Probleme auf, die das - vermeidlich ruhige - alltägliche Leben in Deutschland für jüngere Generationen zu einem von Angst begleiteten machen. Dabei spielt die Verteilung von Einkommen und Vermögen eine ebenso wichtige Rolle, wie der - im Grunde existenzzerstörende - Anstieg der Mietpreise, deren Inflationswert seit Jahrzehnten in die Höhe schnellt, ohne das dies bisher größere Aufregungen mit sich gebracht hätte. Schulz veranschaulicht:

"Eine Wohnung mit 30 Quadratmeter kostete 2017 in Frankfurt am Main 501 Euro Miete im Monat. Ein Jahr später wurde sie für 542 Euro angeboten. 2019 kostete sie 658 Euro. Heute bekommt man 30 Quadratmeter in der Innenstadt nur für eine vierstellige Monatsmiete"

Wohin also, wenn das Studien-Zimmer nicht mehr bezahlbar ist? Die wirtschaftliche Macht einiger Weniger tritt in diesem Szenario als ein aggressionsschürender Faktor auf. „Es gilt die Logik des Erbes“, schreibt Schulz. Für die angehenden Studierenden bedeutet dies: Glück hat, wer in die richtige Familie geboren wurde, was alles andere als eine sichere Grundlage für die Förderung von Gemeinschaft, Diversität, Bildung und Diskurs darstellt. Ein weiteres Problem: Wie den eigenen Kinderwunsch erfüllen, ja, wie auch nur an Kinder denken, wo die Schwierigkeiten bereits bei der Finanzierung der Zwei-Raum-Wohnung beginnen? Wenn individuelle Gestaltungsräume nach und nach wegbrechen, werden sich jene, denen an individueller Lebensgestaltung gelegen ist, zurückziehen.

Orte der Geselligkeit

In der "Altenrepublik" müssen wir also über gerechtere Verteilung, d.h. Umverteilung, sprechen. Und dies nicht nur mit Blick auf das ökonomische Ungleichgewicht - von dessen Brisanz viele Deutsche nach wie vor keine genaue Vorstellung haben - sondern auch mit Blick auf die Lebensrealitäten der Menschen. Letzteres bedeutet auch, über die Errichtung von Orten nachzudenken, an denen Geselligkeit wieder möglich werden kann, um somit Einsamkeit vorzubeugen, die Schulz in seinem Buch als „verborgene Endemie“ bezeichnet. Dazu zitiert er den Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, der in seinem 2018 erschienenen Buch „Einsamkeit“ diese als „somatische Krankheit“ beschreibt, die im Gehirn wie körperliche Schmerzen verarbeitet wird.

Für all diese Herausforderungen haben wir gegenwärtig nur wenig Programme anzubieten. Schulz´ Appell lautet: Wir müssen den demographischen Wandel und seine Folgen politisch ernst nehmen und entsprechende Maßnahmen bzw. Gestaltungswege in Anschlag bringen. Wie müssten Arbeits- und Mietverträge künftig aussehen, damit jüngeren Generationen zwischen Arbeit und Wohnen noch genügend Platz für individuelle Entfaltung und genügend Geld für die Umsetzung derselben zur Verfügung steht? Wie sieht es künftig mit politischen Wahlen aus, wenn in Bundesländern wie Sachsen die unter 30-Jährigen unter 10 Prozent des Landes ausmachen?

Letztlich gilt es, in einem der reichsten Länder der Welt über die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft nachzudenken, die genügend Raum für alle Generationen bietet. Dafür müssen wir den Blick weiten und Probleme ernst nehmen, die es bislang nur in Ausnahmefällen auf Wahlplakate geschafft haben.


Stefan Schulz - "Die Altenrepublik. Wie der demographische Wandel unsere Zukunft bedroht" / Hoffmann und Campe / 2022 / 224 Seiten / 23,00 €









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