Aus über 200 eingereichten Büchern hatte die Jury des diesjährigen Deutschen Buchpreises im vergangenen Monat 20 Titel für die Longlist ausgewählt. Heute wurde diese Liste auf sechs Bücher (Shortlist) reduziert, die nun ins finale Rennen um die mit insgesamt 37.500 Eur0 dotierte Auszeichnung gehen. Der Roman der Stunde ist nicht dabei.
Alljährlich zeichnet der Deutsche Buchpreis den "Roman des Jahres" aus. Ziel ist es, Aufmerksamkeit für deutschsprachige SchriftstellerInnen, das Lesen und das Leitmedium Buch zu schaffen. Mit 200 Einreichungen gab es in diesem Jahr so viel Einreichungen wie nie zuvor. Im August hatte die Jury dann die 20 Titel umfassende Longlist vorgestellt, aus der nun die sechs Bücher der Shortlist hervorgegangen sind. Große Namen wie Heinz Strunk, Esther Kinsky oder Dagmar Leupold (die mit ihrem Roman in diesem Jahr zum dritten Mal auf der Longlist vertreten war) haben den Einzug ins Finale verpasst. Stattdessen haben wir es unter anderem mit Identitätsirrungen, einer Kunstpassion und literarischer Trauerarbeit zu tun.
Deutscher Buchpreis 2022: Die Shortlist
Fatma Aydemir - "Dschinns"
Dreißig Jahre lang hat Hüseyin in Deutschland hart gearbeitet, um sich endlich seinen Traum zu erfüllen: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Doch am Tag seines Einzugs erleidet Hüseyin einen Herzinfarkt und stirbt. Zur Trauerfeier reist die Familie aus Deutschland nach. Vor diesem Hintergrund erzählt Fatma Aydemir aus sechs Perspektiven eine Geschichte der Entfremdung, der Ängste und Missverständnisse und zeigt, dass nicht nur ein gemeinsamer Gegner, sondern auch ein gemeinsamer Verlust gemeinschaftsstiftend sein kann.
Kristine Bilkau - "Nebenan"
Kristine Bilkau erzählt von dem urplötzlichen, mysteriösen Verschwinden einer Familie, deren verlassenes Haus zu einer Leerstelle wird, die der Nachbarschaft allmählich zur Obsession wird. In einem kleinen, verschlafenden Ort, zwischen Natur und Industrie, drängen Fragen ans Tageslicht, die am existenziellen Grundgefüge rühren. Bilkau zeigt, wie der Wunsch nach Verbundenheit mit gleichzeitigem Rückzug einhergehen kann. Sie erzählt vom Wunsch nach Geborgenheit, Einfachheit, Wärme und Vertrautheit.
Daniela Dröscher - "Lügen über meine Mutter"
Daniela Dröscher erzählt von einer Kindheit, die maßgeblich von einem Thema bestimmt wird: Das Körpergewicht ihrer Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie abnehmen? Eine Frage, die der Vater eintönig und strikt mit "Ja" beantwortet. Das Übergewicht der Ehefrau wird zum Kompensationszentrum des Vaters; psychische Belastungen auf einen Körper abgewälzt, um den inneren Schmerz greifbar zu machen. Auf dem Körper der Mutter legt der Vater Frust und Wut ab. Sie wiederum, kämpft weiterhin für Selbstbestimmung.
Jan Faktor - "Trottel"
Jan Faktor lässt einen von sich erzählen, der abbricht, sucht, neu beginnt, stolpert, fällt, aufsteht. Ein selbsternannter Trottel, der, nachdem er sein Informatik-Studium in Prag aufgegebene hat, nach Ostberlin zieht. Undergroundszene, Familiengründung, DDR-Doktrin und die Nachwendejahre. Die Komik wird allenhalben unterbrochen von den Erinnerungen des Sohnes, der sich mit dreiunddreißig Jahren das Leben nimmt und dessen Tod den letzten Rest, der noch gefestigt schien, aus den Fugen hebt.
Kim de l'Horizon - "Blutbuch"
Die Erzählfigur in "Blutbuch" identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Sie wuchs in einem schäbigen Schweizer Vorort auf, den sie jedoch hinter sich lässt, um nach Zürich zu ziehen. Hier fühlt sie sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Dann erkrankt jedoch die Mutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dabei stößt sie auf Geschlecht, Traumata und Klassenzugehörigkeit.
Eckhart Nickel - "Spitzweg"
Ein Erzähler, der sich nie viel aus Kunst gemacht hat, wird von der Begeisterung seines Freundes Carl angesteckt, und merkt selbst bald eine Passion in sich aufflammen. Als diese sich so weit steigert, dass er selbst vor einem Verbrechen nicht mehr zurückschreckt, wird die einst liebevolle Schülerfreundschaft auf die Probe gestellt. Eckhart Nickel schreibt über die Kraft und Magie der Kunst, die alle Grenzen zu durchbrechen und ein Leben bis ans Äußerte zu führen vermag.
Reinhard Kaiser-Mühlecker und Esther Rombo nicht auf der Liste
Auf frappant eingängige und zugleich suggestive Zeitdiagnosen, wie wir sie etwa in Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman "Wilderer" oder in Dagmar Leupolds "Dagegen die Elefanten" antreffen, scheint die Jury zugunsten identitätspolitischer Auseinandersetzungen und hier und da allzu leicht lokalisierbarer Wut verzichtet zu haben. So zieht man etwa Fatma Aydemirs "Dschinns" - ein wütendes, oft überspanntes Buch, welches auf Poesie, Doppelbödigkeit und Komplexität nahezu vollkommen verzichtet - einem Roman wie "Wilderer" vor, in welchem die innere Brüchigkeit wesentlich vibrierender, bedrohlicher und tiefer geschildert wird. In dieser Hinsicht ist die Auswahl der Jury in diesem Jahr eine bemerkenswerte, die mit Sicherheit Diskussionen nach sich ziehen wird. Wer den Buchpreis gewinnt, entscheidet sich am 17. Oktober.
Jurysprecherin Miriam Zeh zur Auswahl der Titel
"Ein Roman gibt sich eigene Gesetze und steht doch unweigerlich in Kontakt zur Gegenwart, in der er geschrieben und gelesen wird. Alle sechs Titel der Shortlist 2022 konnten uns in ihrer ästhetischen Eigenheit überzeugen. Mit sprachlicher Brillanz und formaler Innovationskraft beschreiben sie soziale Realitäten und Phantasmen, vermessen Mitte und Ränder, umkreisen Trauer und Komik. Damit bilden die nominierten Autor:innen die thematische wie stilistische Vielfalt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ab. Gemeinsam ist ihnen: eine künstlerische Unbedingtheit. Mit ihren Büchern beziehen sie Position, zeigen sich streitbar und zugleich offen für den Dialog. So laden wir mit der Lektüre dieser Shortlist auch ein, in einen Austausch zu treten und den eigenen Blick auf die Welt neu zu justieren.", so fasst Jurysprecherin Miriam Zeh (Deutschlandfunk Kultur) die Diskussion der Jury über die Romane des Jahres zusammen