In seinem neuen Erzählband "Nachmittage" führt der Bestsellerautor Ferdinand von Schirach gewissermaßen jene Erkundungen fort, die er in seinem letzten Prosa-Buch "Kaffee und Zigaretten" begonnen hatte. Doch während wir es 2019 mit Texten zu tun hatten, die unmissverständlich aus dem Leben des Autors erzählten, erscheinen uns die Geschichten dieses Buches in einem seltsamen Dunst, der Erlebtes und Erdachtes nahezu ununterscheidbar macht.
In insgesamt 26 Geschichten, die sich zum Teil wie schnell aber doch präzise hingeworfene Notizen lesen, reflektiert, erinnert und verknüpft Ferdinand von Schirach in "Nachmittage" Reisegeschichten, Hotelaufenthalte, Städtebeschreibungen und Kunstbegegnungen mit den Erinnerungen an eine verlorene Liebe. Letzteres hält - als Wunde, als Verlust - die Erzählungen zusammen, dient als stetiger Referenzpunkt, der immer wieder subtil angespielt und in vielen der hier gebotenen Beobachtungen aufgegriffen wird.
Die Wunde als Kunstgrund
Die verlorene Liebe. Als Referenzpunkt kann man sie durchaus auch dort finden, wo der Autor einen Tempel mit "unzähligen Götterstatuen mit Seidenkleidern", mit "grimmigen Fabelwesen" und einem "Pferd aus Bronze" anreichert, in der Brillanz also, mit der von Schirach seine Leser atmosphärisch umhüllt, um sie tiefer in den beschriebenen Tempel hineinzuführen, bis zu einem Liebesgott, der, so die Begleiterin des Erzählers, ein Buch besitzt, in welchem geschrieben steht, welche Menschen füreinander bestimmt sind.
Der Verlust der Liebe ist natürlich in der Beschreibung jener Begegnung zu finden, die diesem Verlust vorausging und am Anfang dieses Buches zu stehen scheint. Eine unverhoffte Begegnung in einem Lokal, ein Gespräch, dass den gesamten Nachmittag andauert. Als sie gehen will, hat der Abend längst eingesetzt, die Straße besteht aus künstlichem Licht. Er bringt er sie zum Ausgang, legt sein Jackett über ihre Schultern. Dann ihr Satz "Sie machen alles richtig, glaube ich" - der einzige, an dem sich der Erzähler noch erinnern kann.
Die verlorene Liebe wartet am Beginn der Erinnerung, sitz als Verlust in den Fassaden sämtlicher, monumentaler Bauwerke und Hotels, ist als Wunde der Ursprung des künstlerischen Schaffens, der auslösende Momente, der dazu treibt, sich an den Tisch zu setzen und einen Satz aufzuschreiben. Ferdinand von Schirach hat - wie viele Schriftsteller und Künstler vor ihm - wiederholt darauf verwiesen, dass, um den Österreicher Thomas Bernhard zu zitieren, aus "Schlagoberst nichts wird". Ein Werk müsse nicht zwingend wahr, wohl aber wahrhaftig sein, erklärte der Bestsellerautor einmal mit Blick auf sein Buch "Kaffee und Zigaretten". Diese Wahrhaftigkeit ist in "Nachmittage" immer anwesend. Wir lesen die hier aufgeführten Geschichten wie klitzekleine aber immer vehemente Versuche, etwas zu verschließen. Und wissen zugleich, dass es, sollte einer dieser Versuche gelingen, kein nächstes Buch mehr geben wird.
Kunsterlebnisse und Prägungen
Um die besagte Liebesgeschichte ranken sich Beobachtungen und Reflexionen. Häufig sind es Kunstbegegnungen, die wir verfolgen können. Da ist die Skulptur "Frau auf dem Wagen" des Schweizer Künstlers Alberto Giacometti, da sind die tiefen Prägungen, die Autoren wie Ernest Hemingway und vor allem der von von Schirach verehrte Thomas Mann hinterlassen haben. Wir von Begegnungen in Hamburg, Paris und New York, von zurückliegenden Reisen mit Freundinnen, von Gesprächen in Hotelbars, die leise gesprochen werden und deren Helden "das Spiel endgültig verloren" haben. An alltägliche Erlebnisse knüpfen sich dann Erinnerungen, aus denen sich die Erzählungen dieses Bandes spinnen.
In einigen dieser Geschichten scheint von Schirach aus seiner Vergangenheit als Strafverteidiger zu schöpfen und wiederholt auf das vermeidlich "Gute" oder "Böse" der menschlichen Existenz einzugehen. Uns begegnen Figuren, die, in die Ecke gedrängt, bereit sind, moralische und rechtliche Grenzen zu übertreten. Eine junge Frau, die auf Rache sinnt, ein Uhrenhersteller, der seine Reputation retten will, eine Anwältin, die aus ihrer marode gewordenen Ehe ausbricht, und eine Affäre mit einem Musiker beginnt.
So reisen wir in "Nachmittage" um die Welt und lernen, melancholisch und verträumt, Ereignisse, Szenerien, Figuren und Evidenzen als parabolische Versatzstücke zu erblicken, die im Moment unseres Erhaschens wie eine Anleitungen zum Erinnern erscheinen, und gerade daher schon immer verpasste sind.
Ferdinand von Schirach - "Nachmittage" / Luchterhand Verlag / 2022 / 176 Seiten / 22 €