Sehnsüchtig hat man sie erwartet, jetzt sind sie da: Werner Herzog, einer der herausragendsten und originellsten deutschen Filmemacher, hat seine Erinnerungen in Buchform gebracht. Unter dem Titel "Jeder stirbt für sich und Gott gegen alle" versammelt Herzog Bilder und Erlebnisse aus der Kindheit, Gedanken über Filme und Dokumentationen, Abenteuer und Anekdoten. All diese Fragmente zusammengenommen, ergibt sich der ebenso empfindsame wie radikale Blick eines stillen Exzentrikers, dessen Schweigsamkeit bisweilen beängstigend wirken kann. Ein Unermüdlicher, ein Grenzgänger des Films, der, wie es im Buch heißt, "aus völliger Unkenntnis des Kinos", Kino auf seine Weise selbst erfunden hatte.
Werner Herzog. Kaum fällt dieser Name, bringt man ihn, beinahe zwangsläufig, mit dem Klaus Kinski´s in Verbindung, hat die cholerischen Hasstiraden und Tobsuchtsanfällen des Schauspielers vor Augen, auf die wohl niemand so souverän und gelassen zu reagieren wusste, wie der Regisseur Herzog. Exzentriker waren sie beide. Kinski offen ungehalten und sich ständig produzierend, Herzog, so hat man den Eindruck, nach innen gerichtet, sezierend und analysierend. Diese unter Hochspannung stehenden Gegensätze, die selbst wie ein filmischer Strang erscheinen und zum Staunen einladen, stießen immer wieder aufeinander. Viele werden sich an die Szenen zum Dreh des Films "Fitzcarraldo" im Amazonas-Gebiet erinnern, als Herzog in den Augen der am Set anwesenden, indigenen Männer vom Stamm der Asháninka plötzlich eine tiefe Angst entdeckte. Der Regisseur vermutete das Naheliegende und nahm an, es sei Kinski´s Gebrüll, das sie Männer in Angst versetzte. Erst später erzählte ein Häuptling, es sei ganz im Gegenteil Herzogs Ruhe gewesen, vor der sie sich fürchteten.
Grenzen und Grenzüberschreitung
In der Tat scheint sich hinter der Indifferenz dieser Persönlichkeit etwas Obsessives, eine unheimliche Unbedingtheit zu verstecken. Auch eine Kompromisslosigkeit, die nicht zuletzt im Zuge etlicher Filmdrehs zu Tage trat, wo Herzog stets bis ans Äußerste ging und tatsächlich keinerlei Gefahr scheute. So fanden, um nur zwei Beispiele zu nennen, die Dreharbeiten zu den Filmen "Aguirre - Der Zorn Gottes" und "Fitzcarraldo" unter schwersten und schwierigsten Bedingungen - von Flugzeugabstürzen und einem Krieg begleitet - statt. Die Nähe zur Gefahr, zur Grenze und Grenzüberschreitung scheint Herzog unentbehrlich. In seinen Filmen, Dokumentationen und Büchern erzählt er von Menschen in Extremsituationen, umschreibt Punkte, an denen das Essentielle und Existenzielle in aller Rohheit zum Vorschein kommt. Das erscheint mitunter bestialisch, kann ins Tragische oder ins Komische kippen. Selbst Naturgewalt sind diese Werke.
"Jeder für sich und Gott gegen alle"
In "Jeder für sich und Gott gegen alle" haben wir es nun mit aufschlussreichen Vorgeschichten zu tun, Anekdoten und Aperçus, die einerseits auf dieses Extrem, die Liebe zum Überbordende, zusteuern, anderseits dieses Extrem in unterschiedlichen Facetten bildlich verdeutlichen. Gerade die dabei stets im Hintergrund lauernde, herzogsche Unbedingtheit, von der man als Leserin ja immer weiß, macht dieses Buch so ungeheuer spannend. Mir fiele keine Künstlerpersönlichkeit ein, von der ich lieber Kindheitserinnerungen lesen würde.
Erzählt ist das alles in einem recht trockenen, passagenweise aber durchaus auch poetischen Ton, der den Krawall der Anekdoten wunderbar transportiert. Die uns allen bekannte "schnörkellose Sprache" - sonst häufig als Euphemismus für "kann nicht schreiben" verwendet -, funktioniert in Herzogs Schilderungen ausgezeichnet, da die Geschichten an sich bereits genügend Sprengkraft bieten. Wenn dort geschildert wird, wie Herzog als 23-Jähriger in einem Clownskostüm Rodeo auf Stieren reitet, oder wie er als Parkwächter das Lenkrad eines Autos so einklemmte, dass es auf dem Parkplatz unentwegt im Kreis fuhr; wenn dort von Freundschaft und Familie, von seinem Bruder und der Flucht mit der Mutter aus dem zerbombten erzählt wird, dann sieht man als Leser quasi die nahen und großen Momente dieses Erzählens in Form ebenso großer Motive einzelner Herzog-Filme. Auch auf die Frauen in seinem Leben kommt Herzog zu sprechen, Frauen, die allesamt "selbstständig, stark, schön und intelligent" waren, und ohne denen der Regisseur, wie er schreibt, nur ein Schatten seiner selbst gewesen wäre.
Übungen zur Selbstergründung
So führt "Jeder für sich und Gott gegen alle" von München aus in das oberbayerischen Dorf Sachrang, von Sachrang - nach einigen Kollisionen - wieder zurück nach München, wo Herzog auf das Medium Film trifft. Eine folgenschwere Konfrontation, die eine nunmehr über 60 Jahre anhaltende Faszination für das Schwirrende und Schwelende nach sich zog, ein immenses Interesse an bisher unbebilderte Zustände, die ihn, Herzog, in den Bann ziehen, denen er auf den Grund gehen muss. Hier übt er nun die Selbstergrüdnung ein.
Werner Herzog - "Jeder für sich und Gott gegen alle"; Hanser Verlag 2022, 352 Seiten, 28 Euro