„Das alles ist chinesisch!“, sagt Adil und zeigt auf die vierspurige Straße, die den beliebten Yssykköl-See mit Kirgistans Hauptstadt Bischkek verbindet. Früher dauerte die Fahrt sechs Stunden, jetzt nur noch zweieinhalb.
„Das alles ist chinesisch“ bekommt man oft zu hören, wenn man zwischen Osteuropa und Zentralasien unterwegs ist – egal ob es um Straßen und Eisenbahnlinien, Atomkraftwerke und Staudämme oder Spielzeug und Essen geht.
Während Europa sich zunehmend mit sich selbst beschäftigt, findet in einem riesigen, hierzulande kaum beachteten Gebiet ein fundamentaler Paradigmenwechsel statt. Er wird sichtbarer, je näher man China kommt.
Neues Selbstbewusstsein von Istanbul bis Tbilissi
„Früher gab es für uns nur ein Ziel: Europa“. Das sagt Hamza, der auf einem Partyschiff in Antalya Musik auflegt. Was er dem deutschen Gast höflich verschweigt, ist, dass Europa nicht länger eine Verheißung ist. Stattdessen orientiert man sich zunehmend an den wirtschaftlich starken Ländern der Arabischen Halbinsel und wendet sich Asien zu.
Früher war das anders: Da blickte das ganze Land erwartungsvoll gen Westen; dem wirtschaftlich schwachen Ostteil des Landes, Anatolien, wendete man den Rücken zu. Inzwischen jedoch begreift man die unvergleichliche Lage zwischen Orient und Okzident immer stärker als das, was sie ist: ein geostrategischer Trumpf, der neue Perspektiven eröffnet.
Hamza versucht mittlerweile, eine schwarzäugige Tänzerin zu beeindrucken, indem er die Liebesschwüre von Okan & Volkan aufdreht. „Halden Anlamaz“, schallt es übers Meer – ein Hit, entstanden aus türkischer Folklore, arabischen Einflüssen und westlicher Popmusik.
Weiter östlich, in Armeniens Hauptstadt Eriwan, ist man nicht gut auf die Türkei zu sprechen. Diese weigere sich noch immer, den Opfern der Massaker im Ersten Weltkrieg angemessen zu gedenken. Dabei war Armenien, das im Jahr 301 als erstes Land der Welt das Christentum zur Staatsreligion erhob, immer schon ein Zankapfel. Jahrhundertelang stritten sich Römer und Perser um das fruchtbare Gebiet. Einst reichte es vom Mittelmeer zum Kaspischen Meer; heute bietet das gebirgige Land gerade noch drei Millionen Menschen einen Lebensraum. Acht Millionen Armenier leben außerhalb ihres Landes. Selbst das Nationalsymbol, der Berg Ararat, an dem Noahs Arche gestrandet sein soll, befindet sich nicht länger im Land, sondern wenige Kilometer hinter der Grenze – ausgerechnet in der Türkei.
Sobald man die Hauptstadt verlässt, fühlt man sich um Jahrzehnte zurückgeworfen. Kühe und Ziegen überqueren schlaglochübersäte Straßen, „Marschrutkas“, die russische Form der Sammeltaxis, schnaufen staubtrockene Windungen empor. Wohin man sich auch wendet, der Blick gelangt rasch zu einem Berg, an dem man sich kaum sattsehen kann – zumal meist ein wie aus der Zeit gefallenes Kloster spektakulär an dessen Abgrund balanciert. Wer hier ausharrt, wird ähnlich hart und genügsam wie die Felsmassive, die die Landschaft weithin prägen.
Im Nachbarstaat Georgien hat man es hingegen geschafft, einen einträglichen Tourismus zu etablieren, den man mit Bustouren und Fahrradausflügen am Leben hält. Der neueste Schrei ist eine 240 Meter lange Glasbrücke über die Dashbashi-Schlucht, in deren Mitte sich eine diamantförmige Bar befindet.
Vor allem in den Dörfern gibt es noch immer echte Gastfreundschaft, die sich dadurch ausdrückt, dass man ausgiebig miteinander schmaust. Der ahnungslose Gast, der das erste Mal an einer langen Tafel Platz nimmt, meint vielleicht, dass das Gelage nach einer Stunde zu Ende sei. Immerhin hat man da in aller Regel nicht nur die Vorspeise – gefüllte Auberginen oder eine herzhafte Suppe – und einen Fisch verspeist, sondern sich dazu hemmungslos am geradezu süchtig machenden Käsebrot „Chatschapuri“ bedient. Ganz abgesehen vom Wein, den der Tischmeister bei jedem Gang mit einem neuen Trinkspruch eingießt. Dabei beginnt der Spaß erst! Jetzt wird nämlich der Hauptgang aufgetischt, Schaschlik zum Beispiel oder Hammeleintopf, in jedem Fall Fleisch, dazu gibt es reichlich Reis oder Kartoffeln und ein wenig Alibigemüse. Natürlich trinkt man dazu wieder Wein. Nur beim Nachtisch hält man sich zurück: Etwas Obst und ein Kaffee reichen – schließlich beginnt schon am frühen Abend das nächste Gelage.