Am Freitag wird der Schriftsteller Sten Nadolny achtzig Jahre alt. Ein Autor, der sich nicht nur in seinem bekanntestes Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" für den Müßiggang einsetzte, sondern auch das künstlerische Schaffen selbst als einen langwidrigen Prozess voller Irrungen und Wagnisse verteidigt. Nadolnys Botschaft ist heute, beinahe 40 Jahre nach Erscheinen seines großen Langsamkeits-Romans, aktueller und dringlicher denn je: Die wirklich glücklichen Fügung lassen oftmals auf sich warten. Glücklich die, die warten können.
Als Sten Nadolny den Polarforscher John Franklin (1786 - 1847) mit einer eigentümlichen Langsamkeit ausstattete, war eine Romanfigur geboren, die durchaus in einem Zuge mit Günter Grass´ Oskar Matzerath zu nennen ist. Eine Figur, die die Weltgeschehnisse und unmittelbaren Augenblicke aufgrund ihrer körperlichen Eigenart anders, genauer, vielleicht präziser beobachten, empfinden und wiedergeben kann. Bei Matzerath, der die Geschehnisse aus den Augen eines Kindes wahrnimmt, handelte es sich um einen physischen Protest. Bei Nadolnys Figur John Frankling haben wir es hingegen zunächst mit einer beinahe kränkenden Einschränkung zu tun - seine Langsamkeit versperrt ihn gewisse Wege, soziale Kontakte und anderweitige Perspektiven. Dass sich zugleich Neues öffnen, ist nicht nur Franklins, sondern auch unser großes Glück gewesen.
John Franklin als künstlerischer Abenteurer
Das magische an dieser Figur ist mitunter, dass sie bis in die Gegenwart hinein als beständige Antipode zum Geschwindigkeits-Wahn gesetzt werden kann. Franklin erscheint als ein uns lebendig gewordenes Argument gegen den Höher-Schnell-Weiter-Wahn. Zugleich hat Nadolny hier einen Protagonisten entworfen, der mit und in seinem Handeln eine künstlerische Form der Weltbetrachtung verdeutlicht, einen Prozess aufzeigt, der sich aus vielen ziellosen Fahrten zusammensetzt, auf denen geirrt, gezweifelt und über Ziele hinausgeschossen wird.
Welch Faszination vom Umherirren ausgehen kann, hatte Nadolny bereits zwei Jahre vor "Die Entdeckung der Langsamkeit" dargestellt. In seinem Debütroman "Netzkarte" ließ er den von romantischen Sehnsüchten getriebenen Taugenichts Ole Reuter mit der Bahn quer durch die Bundesrepublik reisen. Ein facettenreiches Unterfangen, welches in einer folgenschweren Bekanntschaft endet.
In einer Münchner Poetikvorlesung hatte Nadolny dann die Irrwege des Erzählens selbst zum Thema gemacht. 1990 entstand daraus das Buch "Das Erzählen und die guten Absichten", welches hochinteressante Einblicke in eine dem Für- und Wider verschriebenen Schreibwerkstatt bot.
Ein künstlerisches Leben
Nadolny erhielt allerlei Kunstpreise. 1980 den Ingeborg-Bachmann-Preis für einen Auszug aus der damals noch nicht erschienen "Entdeckung der Langsamkeit"; später den Hans-Fallada-Preis. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Ernst-Hoferichter-Preis (1995) hatte der Autor dann wenigstens ein klein wenig Recht auf ein künstlerisches Leben verlangt. Denn: "Ein Autor kann sich nicht immer auf das Ziel beschränken, in der von anderen Leuten erhofften Weise zu schreiben, die erwarteten Geschichten zu schreiben. Er ist ja auch Navigator, kämpft, probiert, rechnet, irrt sich, wagt sich einmal zu weit, mal zu wenig weit hinaus, kreist mit mehreren Büchern das ein, was er meint, ohne es zu erreichen."
Sich auf fremdgesetzte Ziele zu versteifen, an einer Produktionslinie entlangschreiben und letztlich leicht und gut verdauliche Häppchen zu liefern, die den Hunger freilich nicht stillen - das muss einem Autor im Grunde unmöglich erscheinen. Mit Witz und Mut hat sich Sten Nadolny der Schnelllebigkeit entzogen; und somit das Schreiben stets hochgehalten.
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