Nach dem Erscheinen eines mit "Waffenstillstand jetzt!" überschriebenen offenen Briefes, den Publizisten, Schriftsteller und Intellektuelle vergangene Woche in der Wochenzeitschrift "Die Zeit" veröffentlicht hatten, brach ein weiterer Entrüstungssturm los. In verschiedenen Kommentaren wird den Unterzeichnern Inkompetenz, fehlende Weitsicht und Ahnungslosigkeit vorgeworfen. Aber wer wirft da eigentlich wem etwas vor?
Nachdem unlängst nun ein dritter offener Brief erschienen ist, dessen UnterzeichnerInnen sich abermals mit der Rolle Deutschlands und des Westens im Rahmen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine befassen, bleibt nach wie vor die Frage, wann genau das eintreten wird, was die Verfasser des ersten Appells im April verlangten: Friedensverhandlungen. Damals war der Aufschrei groß. In Talk-Shows wurden die Verfasser und Unterzeichner angegriffen, als "moralisch verwahrlost", fachfremd und inkompetent bezeichnet. Roh und laut wurden diese Debatten geführt, einer Demokratie nicht würdig. Auch jetzt vernimmt man ähnlich kritische Töne. Töne, die eher auf die Person als auf das Argument zielen, verfestigte Meinungen, die sich Friedensverhandlungen als mögliches Kriegsausgangs-Szenario scheinbar nicht vorstellen können. Wer sich ein solches Szenario am Ende dieses furchtbaren Krieges aber nicht vorstellen kann (oder will), muss notwendigerweise davon überzeugt sein, den Aggressor, Russland, mittel- oder langfristig militärisch besiegen und also zum Schweigen bringen zu können. Das unerwünschte allmählich von der Weltkarte streichen? Selbst wenn eine solche Aussicht eine realistisch wäre, würde das nichts daran ändern, dass allein die Vorstellung einer zunehmend in die Ecke gedrängten Atommacht alles andere als eine wünschenswerte Zukunftsaussicht darstellt. Anstatt sich aber einzugestehen, dass wir uns in einer durchaus aporetischen Situation befinden, werden rhetorische Grabenkämpfe vom Zaun gebrochen, die, vor allem von der sich für weitere Waffenlieferungen und also der Fortführung des Krieges aussprechenden Seite befeuert, hitzig, affektiv, eher taktisch als strategisch geführt werden. Nicht nur militärisch, auch rhetorisch wird aufgerüstet.
Heißt es in dem dritten, vor einigen Tagen in der Wochenzeitschrift "Die Zeit" erschienenen Appell "Die internationale Gemeinschaft muss vielmehr alles dafür tun, Bedingungen zu schaffen, unter denen Verhandlungen überhaupt möglich sind.", heißt es in den Reaktionen auf den Brief, die Autoren würden nichts dazulernen, nichts wahrnehmen (faz). Die Forderungen "Schluss mit Waffenlieferungen" sei "dramatisch unterkomplex" (web.de). Die Schriftstellerin Jagoda Marinić sagte im Deutschlandfunk Kultur, der Brief sei "an der Grenze des Zynischen, was ich noch aushalte". Man habe bereits eine Strategie, so Marinić. Diese bestehe darin, Putin klar zu machen, dass ein Diktatfrieden nicht möglich sei. Wie genau sich diese Strategie gestaltet, bleibt offen.
Wer entscheiden, wer besser nicht gesprochen hätte?
Bemerkenswert in der Debatte ist, wie harsch man gegen die UnterzeichnerInnen des dritten Briefes medial vorgeht. Allein die Headlines der Meinungsartikel - "Frieden schaffen ohne Ahnung" (FAZ); "Einigkeit und Precht und Freiheit" (WEB.de) - verdeutlichen, dass es keinerlei tiefere Auseinandersetzung mit den Forderungen und Anregungen der entsprechenden AutorInnen gegeben hat. Ernsthafte Zweifel, Bemühungen und Bedenken werden auf Überschriften begrenzt, das eigene Unvermögen auf "satirische" Weise in Wut übersetzt, wodurch selbstverständlich die notwendige Distanz aufgegeben wird. Wer wirft hier wem Inkompetenz vor? Wer sagt, wer zu einem Thema sprechen darf? Und wer besser nicht gesprochen hätte?
Marie von den Benken
Die Spitze dieser ad hominem-Rhetorik stellt wohl der von Marie von den Benken verfasste "satirische Wochenüberblick" dar, der - weil sehr modisch - die Analyse durch schmissige Pointen zu ersetzen versucht und dabei das Wort "Satire" selbstverständlich nur als Feigenblatt verwendet. Marie von den Benken, Influencerin und Model und allein dadurch eben kompetent im Urteilen darüber, wer wozu sprechen sollte, glaubt augenscheinlich nach wie vor, man habe die offenen Briefe direkt an Putin adressiert. Marie von den Benken, Lifestyle Kolumnistin, glaubt auch, die Verfasser des Briefes würden davon ausgehen, einen Angriffskrieg briefeschreibend beenden zu können - wovon niemals die Rede war. Die UnterzeichnerInnen nennt Marie von den Benken indessen Putins "inoffizielle PR-Brigade", den Appell "Schluss mit Waffenlieferungen" setzt Marie von den Benken noch immer mit "einer Kapitulation der Ukraine" gleich. Marie von den Benken - "Sie pendelt zwischen den internationalen Fashion Weeks und deutschen TV-Studios" - ist außerdem der festen Überzeugung, offene Briefe seien ganz allgemein eine Art Selbstinszenierungen, denn Marie von den Benkens Antwortschreiben ist das ja auch. Marie von den Benken zeigt in ihrem Artikel eindrücklich, wie wichtige Forderungen ernsthaft besorgter Menschen zu postmodernem Klamauk verarbeitet werden können, und das sich die eindringliche Beschäftigung mit fremden Argumenten in einer von hedonistischen Individualbestrebungen überzogenen Demokratie ruhig mal hinten anstellen kann. Marie von den Benken - viele werden ihr folgen.
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