"Und denken Sie daran: Viele der Allergrößten hätten Bewerbe wie diesen nie im Leben gewonnen, wahrscheinlich nicht einmal die Bachmann." - In ihrer Bachmannpreis-Rede blickt die österreichische Schriftstellerin Anna Baar auf ihre Jugend in Klagenfurt, kritisiert Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus und betont die selbstreferenziellen Zügen des Landes. Gegen Ende ihres Textes beklagt sie die "Betroffenheitsmilde" der Gegenwartsliteratur. Ein flammendes Plädoyer fürs Schreiben, für das Wort.
Der Leiter der Heilpädagogikabteilung des Kärntner Landeskrankenhauses, Franz Wurst, versteckte den von ihm praktizierten Kindesmissbrauch jahrzehntelang hinter dem Begriff "Zuwendungstherapie". Wurst, von seinem näheren Zirkel auch "Gott" genannt, ist einer der Protagonisten, die in der von der österreichischen Schriftstellerin Anna Baar gehaltenen Bachmannpreis-Eröffnungs-Rede auftritt. Unter der Überschrift "Die Wahrheit ist eine Zumutung" blickt Baar darin kritisch und mit durchaus selbstzersetzender Tendenz auf Klagenfurt und Österreich, auf eine schon Tradition gewordene Doppelzüngigkeiten und eine sich in Schweigen ausdrückenden Ignoranz. "Die Mutter ermahnte uns immer zum Leisetreten. Die Vermieterin, sie wohnte unter uns, konnte es nicht leiden, wenn der Parkettboden knarrte" - so beginnt diese Lesung. Enden tut sie mit einer Forderung, in der jenes "Leisetreten" des Anfangs wieder aufgenommen wird: "Spielen Sie nicht in Socken!", richtet sich Baar an die 14 diesjährigen Autorinnen und Autoren, "Es ist ein Elefant in dieser Lesemanege."
Was aus diesem beeindruckenden und als Eröffnung nicht hoch genug zu hängenden Text am deutlichsten hervorsticht, ist wohl die Warnung davor, die Markt- und Warenlogik noch weiter in die Literatur, in die literarische Themenwahl - ist das Wählen selbst nicht schon zu viel? - ins Texte-Vorzeigen eindringen zu lassen. Denn wenn, wie Ingeborg Bachmann sagte, alles eine Frage der Sprache ist, dann ist alles in jenem Moment bedroht, wo die Sprache zum Mittel wird. Gert Jonke, so Baar, lag absolut richtig, "als er in seiner Rede zu diesem Wettbewerb sagte, Ingeborg Bachmann sei nicht am Schreiben gescheitert, sondern an diesem Betrieb, der sie umgebracht habe, um sie kurz darauf in den Himmel zu heben."
"Weißbrotliteratur ohne besonderen Nährwert"
Abseits des rigorosen Literaturbetriebs aber, liegen Themen am Wegesrand, über die zu Schweigen im Grunde unmöglich, über die zu sprechen allerdings äußerst schmerzhaft ist. Es sind Themen, die Baar in der ersten Hälfte ihres Textes skizziert und flüchtig abhandelt, um an späterer Stelle Anschläge auf eine Literatur zu verüben, die sich an mit "flotten Plots" und "derber Provokation" zufrieden gibt. "Weißbrotliteratur ohne besonderen Nährwert", dem Markt untergeordnet.
Zum Schluss richtet sich Anna Baar dann explizit an jene, die im Laufe der 46. Tage der deutschsprachigen Literatur ihre Texte präsentieren werden. Ihr Appell ist zugleich ein Einspruch gegen ein Wettbewerbsdenken:"Viele der Allergrößten hätten Bewerbe wie diesen nie im Leben gewonnen, wahrscheinlich nicht einmal die Bachmann." Große Literatur, verdeutliche Baar, zielt in der Motivation nicht aufs Siegertreppchen. Vielmehr versammelt sie die Stimmen der Verlierer, der Ausgegrenzten, der großen Kleinigkeiten außerhalb der eigenen Befindlichkeit. Aufrüttelnder Literaturstoff leitet sich ganz im Gegenteil von jenen Phänomenen ab, die erst befindlich machen, die angreifen, reizen. Diese gilt es zu zerfragen. Möge das Lesen beginnen.
Topnews
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Karl Ove Knausgård: Das dritte Königreich
Romanverfilmung "Sonne und Beton" knackt Besuchermillionen
Asterix - Im Reich der Mitte
Rassismus in Schullektüre: Ulmer Lehrerin schmeißt hin
14 Nominierungen für die Literaturverfilmung "Im Westen nichts Neues"
"Die Chemie des Todes" - Simon Becketts Bestsellerreihe startet bei Paramount+
Michel Houellebecq und die "Aufstachelung zum Hass"
Bachmannpreis 2022: Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur senden live
Der Ingeborg-Bachmann-Preis: Termine, Teilnehmer und Ablauf
Der Bachmannpreis 2019 - Ein Einblick
Der erste Lesetag in Klagenfurt: "Wo beginne ich zu erzählen?"
"Ingeborg-Bachmann-Preis" auf 3sat: Die wichtigsten Infos im Überblick
Buchankündigung: Bela B Felsenheimers neuer Roman "FUN" und Lesereise 2025
Bachmannpreis 2023: Zwei Teilnehmer springen ab
Ingeborg Bachmanpreis 2023: Diese AutorInnen treten an
Große "Literaturhaus-Tour": Österreich läutet fulminanten Literaturherbst ein
Die schottische Autorin Ali Smith erhält den Staatspreis für Europäische Literatur
Das "Literaricum" spricht über Herman Melvilles "Bartleby der Schreiber"
Bachmannpreis 2022: Diese AutorInnen treten in diesem Jahr an
Österreich startet das "Jahr der österreichischen Literatur"
Elfriede Jelinek soll Ehrenbürgerin Wiens werden
Nava Ebrahimi erhält Ingeborg-Bachmann-Preis 2021
Aktuelles
Ein Haus für Helene

Claudia Dvoracek-Iby: mein Gott

Claudia Dvoracek-Iby: wie seltsam

Marie-Christine Strohbichler: Eine andere Sorte.

Der stürmische Frühlingstag von Pawel Markiewicz
„Der Gesang der Flusskrebse“ – Delia Owens’ poetisches Debüt über Einsamkeit, Natur und das Recht auf Zugehörigkeit
„Der Duft des Wals“ – Paul Rubans präziser Roman über den langsamen Zerfall einer Ehe inmitten von Tropenhitze und Verwesungsgeruch
„Die Richtige“ von Martin Mosebach: Kunst, Kontrolle und die Macht des Blicks
„Das Band, das uns hält“ – Kent Harufs stilles Meisterwerk über Pflicht, Verzicht und stille Größe
Magie für junge Leser– Die 27. Erfurter Kinderbuchtage stehen vor der Tür
„Die Möglichkeit von Glück“ – Anne Rabes kraftvolles Debüt über Schweigen, Schuld und Aufbruch
Für Polina – Takis Würgers melancholische Rückkehr zu den Ursprüngen
„Nightfall“ von Penelope Douglas – Wenn Dunkelheit Verlangen weckt
„Bound by Flames“ von Liane Mars – Wenn Magie auf Leidenschaft trifft
„Letztes Kapitel: Mord“ von Maxime Girardeau – Ein raffinierter Thriller mit literarischer Note
Rezensionen
Good Girl von Aria Aber – eine Geschichte aus dem Off der Gesellschaft
Guadalupe Nettel: Die Tochter
„Größtenteils heldenhaft“ von Anna Burns – Wenn Geschichte leise Helden findet
Ein grünes Licht im Rückspiegel – „Der große Gatsby“ 100 Jahre später
"Neanderthal" von Jens Lubbadeh – Zwischen Wissenschaft, Spannung und ethischen Abgründen
