2007 erschien Julia Francks Erfolgsroman "Die Mittagsfrau", der im selben Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Ebenfalls 2007 sprach die Schriftstellerin und Moderatorin Thea Dorn im Rahmen der Sendung "Literatur im Foyer" mit Franck über ihr ebenso schmerzvolles wie beeindruckendes Buch. Ein aufschlussreiches Gespräch über die Notwendigkeit des Erzählens, über Verlust, Abhängigkeit und die Laster des beginnenden 20. Jahrhunderts, die die Protagonistin Helene im Roman dazu führen, ihr eigenes Kind auszusetzen und zu verschwinden. Derzeit laufen die Dreharbeiten zur Verfilmung der "Mittagsfrau". Nicht zuletzt daher lohnt es sich, dieses Gespräch noch einmal nachzuhören.
Eine junge Frau, die unter den widrigsten Umständen Mutter wird. Es ist der Beginn des 20. Jahrhunderts. Geheizt wird mit Kohle, die Hausfassaden sind zum Teil schwarz gefärbt, innerhalb der Familien wird viel geschwiegen, auf den Straßen und in den Gassen Gerüchte und Sagen verbreitet. Dann bricht der erste Weltkrieg aus. Euphorisch ziehen viele Männer in die Schlacht, Väter fallen an der Front oder kehren - kriegsversehrt, blind und verstümmelt - zum Sterben in ihre Heimat zurück. Neben den historischen Details seien es vor allem die mündlichen Überlieferungen gewesen, die für die Entstehung ihres Buches "Die Mittagsfrau" wichtig gewesen waren, sagte die Autorin Julia Franck in einem 2007 geführten Gespräch mit Thea Dorn. Im selben Jahr hat die Autorin den Deutschen Buchpreis für ihren Bestseller erhalten, in welchem sie von Verlust, Mut, Aufbegehren und zwischenmenschlichen Abhängigkeiten erzählt.
Die "Mittagsfrau" als Sage
Die Mittagsfrau ist ein Naturgeist, eine Lichtgestalt der slawischen Sagenwelt. In unterschiedlichen Überlieferungen heißt es, sie erscheine an heißen Sommertagen zur Mittagszeit und richte sich an jene Menschen, die es wagen, zwischen zwölf und ein Uhr zu arbeiten. Die Mittagsfrau, heißt es, lähmt die Glieder der Arbeitenden, verwirrt ihren Verstand, fragt sie zu Tode oder schneidet ihnen mit einer Sichel den Kopf ab. Retten können sich die von der Mittagsfrau Heimgesuchten nur, indem sie ihr bis ein Uhr von der bäuerlichen Arbeit - insbesondere von der Verarbeitung des Flachses - erzählen. "Ich finde, dass ist eine sehr schöne Sage über die Notwendigkeit des Sprechens, des Erzählens", erläutert Franck im Gespräch mit Dorn.
"Die Mittagsfrau" als Roman
In ihrem Roman erzählt Julia Franck im Windschatten dieser "Notwendigkeit des Sprechens" die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn eines Tages an einem Bahnhof aussetzt und verschwindet. Wir erfahren, wie es zu dieser Ungeheuerlichkeit kommen konnte, vielleicht kommen musste. Erzählt wird von der Kindheit der späteren Mutter, Helene Würsich, deren Vater in den ersten Weltkrieg ziehen muss, als Kriegsversehrter zurückkommt und bald stirbt. Die Mutter erscheint kalt und unnahbar. Mit ihren Töchtern Helene und Martha kann sie nicht viel anfangen, weshalb die beiden ein sehr enges, inzestuöses Verhältnis zueinander aufbauen.
Biografische und historische Hintergründe
Franck´s Roman weist eindeutige biografische Hintergründe auf. So setzte ihre Großmutter ihren Vater während der Flucht Richtung Westen an einem Bahnhof ab, wie es auch die Protagonistin im Roman tut. Ein Ereignis, das, wie Franck erzählt, eine Leerstelle hinterließ. Bereits im Kindesalter, so die Autorin, habe sie sich immer wieder mit diesem Aussetzen beschäftigt. "Als Kind ist man dieser Vater, dieses Kind, das dort hingesetzt wird", so Franck.
Das Schweigen innerhalb der Familien des beginnenden 20. Jahrhunderts, ebenso wie die Sagen und Geschichten, die, vielleicht als Ersatz der ausbleibenden familiären Kommunikation, in den Straßen und Gassen verbreitet wurden, ist ein weiterer wichtiger Punkt ihrer Geschichte. Im Vordergrund aber steht die Frage, welche Umstände eine Frau dazu führen können, ihr Kind aus- beziehungsweise abzusetzen, und zu verschwinden.
Verfilmung "Die Mittagsfrau"
Derzeit laufen die Dreharbeiten zu der Verfilmung der "Mittagsfrau". Regie führt Barbara Albert, das Drehbuch stammt von Meike Hauck, Produzenten sind Oliver Schündler und Boris Ausserer, in Koproduktion mit Anne Walser, Nicolas Steil und Katarzyna Ozga. In den Hauptrollen werden Mala Emde (Helene), Max von der Groeben (Wilhelm), Thomas Prenn (Karl), Liliane Amuat (Martha) und Fabienne Eliane Hollwege (Fanny) zu sehen sein.