Im Zuge der "Nazi-Befreiung" haben sich Tausende Deutsche das Leben genommen. In seinem Bestseller "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt" richtet der Historiker und Fernsehredakteur Florian Huber den Blick auf die "kleinen Leute" deren Untergang. Huber schreibt aus der Sicht von Augenzeugen, die den größten Massenselbstmord der deutschen Geschichte miterlebt hatten. Klar wird dabei unter anderem, wie schnell eine einfache Täter-Opfer-Konstellation an ihre Grenzen stößt. Und wie tief die jahrelang verabreichte nationalsozialistische Propaganda wirkte.
Zwischen dem 30. April und dem 3. Mai 1945 nahmen sich in der vorpommerschen Kleinstadt Demmin mehrere hundert bis über eintausend Zivilisten das Leben. Beinahe ausschließlich Frauen und Kinder waren es, die sich erhängten, vergifteten oder sich in der Peene und der Tollense ertränkten. Die Wehrmacht war am frühen Morgen des 30. Aprils abgezogen und hatte die Brücken hinter sich gesprengt. Auch der Landrat war verschwunden, ebenso wie der Bürgermeister, die Polizei und die NSDAP Funktionäre, die sich nach Westen abgesetzt hatten, um der Roten Armee zu entfliehen. Als diese am frühen Nachmittag in Demmin eintraf, konnte sie die Stadt ohne weitere Kampfhandlungen einnehmen.
Nach der Vergiftung sowjetischer Offiziere in der Adler-Apotheke der Familie Müller, die sich auf diese Weise das Leben genommen hatte, kam es zu unzähligen Vergewaltigen von Frauen und Mädchen, die jederzeit Opfer der sowjetischen Soldaten werden konnten. Die Angst vor diesen Übergriffen von Seiten der Soldaten wird als einer der Hauptgründe angenommen, die dem Massensuizid in Demmin zu Grunde liegt. Aber auch Verzweiflung, ideologische Schuld und Scham werden als Motive angeführt. Die Notiz einer Demminer Lehrerin vom 1 Mai 1945 ziert heut noch einen Gedenkstein auf dem evangelischen Friedhof der Stadt: Freitote, am Sinn des Lebens irre geworden"
Der Untergang der kleinen Leute im Schatten der großen
Der Historiker und Fernsehredakteur Florian Huber hat sich eindringlich mit dem Phänomen der Massenselbstmorde in Deutschland beschäftigt, und die Ergebnisse seiner Recherchen 2014 in dem Buch "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt" gebündelt niedergeschrieben. Zwischen historischer Reportage und den Darstellungen individueller Schicksale oszillierend, zeigt Huber den "Untergang der kleinen Leute in Deutschland". Deutlich wird dabei, dass das Phänomen der Massensuizide einer komplexen Verzahnung von ideologischer Verhärtung, Scham und Angst entspringt. Angesichts der Selbstmorde wichtiger Führungspersönlichkeiten - wie oft fabulierte man beispielsweise über die Selbstmorde Hitlers und Goebbels - geriet die wohl größte Massenselbsttötung der deutschen Geschichte ins Hintertreffen. Viele Überlebende verdrängten außerdem die Geschehnisse.
Auch für Huber ist Demmin exemplarisch. Ein Ort der Enge, an dem sich Angst, Entsetzen und Wut bündelte. Da die Wehrmacht die Brücken gesprengt hatte, waren sowohl die Zivilisten wie wie auch die sowjetischen Soldaten eingeschlossen. Die Nazi-Propaganda hatte die Bevölkerung jahrelang in Angst und Schrecken versetzt, hatte aufgezeigt, was geschehen wird, wenn der Feind deutschen Boden betritt. Die Russen wurden als eine vergewaltigende, rücksichtslose Horde dargestellt, Bestien, die Kindern die Zunge abschneiden und die Augen ausstechen. Gerade für Frauen stellte der Selbstmord daher einen letzten noch möglichen Ausweg dar. Ihre Kinder nahmen sie häufig mit in den Tod.
"Kind, versprich mir, dass du dich erschießt."
Der erschreckende Buchtitel ist auf die Aussage des Vaters Friederike Grensemann´s zurückzuführen. Als dieser am 20. April 1945 zum letzten Gefecht gerufen wird, richtet er in aller Kürze folgende Abschiedsworte an seine 21-jährige Tochter: "Es ist aus, mein Kind, verspreche mir, dass Du Dich erschießt, wenn die Russen kommen, sonst habe ich keine ruhige Minute mehr" Kurze Zeit später, im Angesicht der russischen Armee, warf Friederike Grensemann die Waffe in den Müll und entschied sich für das Leben.
Nicht zuletzt diese Titelwahl zeigt, dass das Phänomen der Selbstmassenmorde im Zuge der "Befreiung" nicht einfach in Täter-Opfer-Kategorien gedacht werden kann. Vielmehr haben wir es mit einer komplizierten Überschneidung zu tun, mit einem Gewahr-Werden der Schuld und den oft totalitären Reaktionen darauf. Das Regime war tief in die Köpfe der Bevölkerung vorgerückt, und hatte dort dafür sorgen können, dass gerade die kleinen Leute am Sinn des Lebens irre wurden.
Florian Huber - "Kind, verspricht mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute"; Piper Taschenbuch, 304 Seiten, 12 €