Der Narr ist eine wiederkehrende Figur in den Büchern Peter Handkes; ein Typus, der sich, freizügig und uneingeschränkt denkend, gegen den Wahnsinn einer informationsgefluteten Welt stellt. Handkes Narren-Figuren blicken entlarvend auf westliche Gesellschaften, in denen die Kontemplation vielerorts durch Angebot ersetzt wurde. Auch in dem neuen Buch des Literaturnobelpreisträgers - "Zwiespalt" - haben wir es mit zwei Narren zu tun, die über das Verschwinden, über Erinnerungen und kleine Beobachtungen am Wegesrand sinnieren. Sie selbst stehen dem "Menschengeschlecht" selbstverständlich feindlich gegenüber...
"Zwiespalt" - so lautet der Titel des neuen, recht schmalen Handke-Büchleins, welches heute bei Suhrkamp erscheint. Ein Titel, der als paradigmatisch für Handkes Beziehung zur konsumorientierten Welt gelesen werden kann und der, wie alle Buchtitel des Literaturnobelpreisträgers, nicht ans Publikum gerichtet einfach über einen Text gesetzt wurde, sondern aus einem In-sich-hineinhorchen resultierte. Im "Zwiegespräch" stehen hier zwei sich selbst als alte Narren bezeichnende Figuren, die hinterfragen und ausloten, erinnern und beobachten. Einerseits tun sie dies im Zurück-Blicken, anderseits mithilfe schonungsloser Gegenwartsbetrachtung.
Die Widmung am Beginn des Buches gibt uns einen Hinweis darauf, wie diese Narren-Figuren uns erscheinen könnten: "... für Otto Sander und Bruno Ganz" steht dort. Handke widmet sein Buch also jenen Schauspielern, die vor 35 Jahren in Wim Wenders "Der Himmel über Berlin" als Engel über einer geteilten Stadt schwebten. Handke selbst hatte damals am Drehbuch mitgearbeitet.
Feinde des "Menschengeschlechts"
Ist es allzu abwegig, aus dem damals noch geteilten Berlin mit Blick auf die Gegenwart eine geteilte Welt zu machen? Handke wäre eine solch distinktive Herangehensweise mit Sicherheit nicht fremd. Zumindest die Bevölkerungen westlicher Zivilisationen wären zu teilen in von "Produkten Erschlagende" und dem "Prozess Verschriebene". Wollte man eine solche Teilung unternehmen, stünde Handke - wie nahezu all seine Protagonisten auch - dem Prozess näher als dem Produkt, dem Flanieren näher als dem Ankommen, dem Schwafeln näher als den Vorlesungen. Ein Außenseiter innerhalb einiger fertigen Welt also, wie es auch die beiden Redenden in diesem "Zwiegespräch" sind.
Für eine lange, gar lange Strecke - buchstäblich eine Blutdurststrecke -, wurde ich dann, wieder buchstäblich, zum Feind des Menschengeschlechts und gleichermaßen mein eigener Feind. (Aus Peter Handke -"Zwiegespräch")
Die Position des Außenseiters nimmt dieser Schriftsteller gerne ein, weiß er doch um die Spielräume, die sich mit einer solchen Postion öffnen. Beobachten kann man besser, genauer, tiefer, ausschweifender, wenn man nicht Teil des Tumults ist. Daher können auch die Gesprächspartner im Buch über gesehene Filme und Theatervorstellungen sprechen, die schneller aus den Erinnerungen verschwanden, "als eine Schneeflocke auf einem frisch gebackenen heißen Brotwecken." Die Hölle, will man mit Sartre sagen, sind die Anderen. Das "Menschengeschlecht" ist die andere Seite. Die Stürmenden, Rasenden, sich selbst abhanden Kommenden.
Das Unwahre WAHRE, das unechte ECHTE, das unwirkliche WIRKLICHE
Die Tage stehen offen für diese Narren, die den aufblitzenden und sogleich wieder verschwindenden postmodernen Phänomenen Erinnerungsbilder entgegensetzen. Da ist ein Großvater, der in Schützengräben lag, der Schlangen aufspießte und Hornissen lebendig einmauerte. Ein von Wortkargheit Zerfressener, der sich erst im Angesicht des Todes, noch immer stumm, schreibend dem Wort zuwandte.
Aber auch die kleinen, klitzekleinen Beobachtungen auf den Straßen sind es, die den beiden Zwiegesprächlern jeden Tag aufs neue das Leben zu retten scheinen. Einmal das Strahlen einer Frau, die einem Ortsfremden den Weg beschreibt; einmal ein junger Mensch, der aus einer Regenlacke trinkt. Beobachtungen, über die es sich deswegen zu reden und schwadronieren lohnt, weil sie sich nur schwer etikettieren lassen, sich der ökonomischen Gewalt also entziehen.
Und schließlich kommt auch der für Peter Handke typische, dieser ökonomischen Gewalt entspringende Weltschmerz nicht zu kurz. Hier aber mit Witz versehen, der zwar noch immer bissig, und doch beinahe tröstlich daherkommt. Da schreibt jemand prägnant, routiniert und zielsicher über die fundamentalen Widersprüche, von denen wir tagtäglich umgeben sind. Über alles, was uns nicht mehr nur verrückt machen müsste, sondern wortwörtlich verrückt.
Je unwirklicher, je unechter die Räume, desto marktschreierischer die Werbeflächen: DAS WIRKLICHE … DER WAHRE … DIE ECHTE! So wurde ich Schritt für Schritt hilfloser. Hilflos, hilfloser, sprachlos. Dabei stand doch in meinem Horoskop: "Sie sind heute unwiderstehlich." (Aus Peter Handke -"Zwiegespräch")
Da schreibt jemand, der unfreiwillig über den Dingen steht, da er sich freiwillig für das Außerhalb-Stehen entschieden hat. Handkes "Zwiegespräch" liefert uns, die wir allzu hektisch von Sensationen umgeben leben, einen Moment der Ruhe. Und plötzlich stauen sich die Momente auf andere Weise, Wut und Welt-Verzweiflung werden womöglich produktiver, Leuchtreklame wieder zu diesem schrecklichen Monstrum, welches es immer schon war. Handke lesend, das ändert sich auch nach 20 Jahren nicht, lernt man sehen.
Peter Handke - "Zwiegespräch"; Suhrkamp Verlag, 2022, 72 Seiten, 18 Euro