Blödsinn

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Ich versuche herauszufinden, welcher Blödsinn in mir schlummert. Wenn ich die ganzen Gedanken anschaue, die mir im Kopf herumschwirren, dann erkenne ich sie wie alte aber langweilige Freunde wieder. Ich kenne sie alle, habe sie oft genug gedacht und denke sie immer wieder. Ich kenne sie genauso wie meine Gefühle. Viele von ihnen sind schon ganz abgenutzt. Sie spielen ihr Spiel immer wieder und meistens spiele ich mit, obwohl das Spiel kein sonderlich schönes ist. Meine Gedanken und Gefühle liegen kreuz und quer übereinander. Früher fand ich es toll, wenn auf Geburtstagsfeiern Twister gespielt wurde. Das gab es bei meiner Familie nicht, deshalb war es etwas Besonderes. So wie Stulle zum Abendessen. Erst später habe ich verstanden, dass für meine Freunde das warme Abendessen, das meine Mutter immer gemacht hat, das eigentlich Besondere war. Mit meiner besten Freundin Sophia habe ich die meisten Besonderheiten entdeckt. Wir haben uns ganze Welten ausgedacht. Meistens bei mir oder auf dem Hof meiner Großeltern. Da hatten wir mehr Platz und weniger Spielsachen als bei Sophia in der Neubauwohnung. Sie hatte ganz viel teures Spielzeug. Zum Beispiel so eine Art Lego mit größeren Figuren, das ich mit meinen zwei linken Händen regelmäßig einriss. Sie hatte ein Tamagochi, das in meiner Obhut krank wurde. Ich selbst war beim Sport und konnte es nicht heilen. Mein Vater hingegen war genervt von dem wilden Piepen und packte das kranke Ding in den Keller. Als ich zurückkam war es still. Es war krepiert.

Sophia hatte immer das, wonach ich nicht betteln durfte. Aber wenn ich jetzt zurückblicke, stelle ich fest, dass wir viel mehr zum Spielen hatten, wenn es gar kein Twister, Tamogochi oder Lego gab. Bei meinen Großeltern haben wir den Hof in Modenschauen, Theater und Hotel verwandelt - Kraft unserer Imagination. In unserer Arztpraxis gab es Berge von Karteikarten, weil alle Kuscheltiere krank und deshalb bei uns in Behandlung waren. Wir haben uns Buden gebaut, bis die Tücher und Decken über den Lampen anfingen zu schmoren. Es war eine Zeit, in der der Rest der Welt egal war, weil es nur Sophia und mich brauchte, um etwas zu schaffen, das viel schöner und größer war als die Wirklichkeit. In Wirklichkeit hatte ich nämlich Angst vor Sophias Mutter, weil ich ständig entweder selbst etwas falsch gemacht oder Sophia zu etwas verleitet hatte, was sie gar nicht durfte. Ihre Mutter hat vor Aufregung immer ganz viel “äh, äh” gesagt. Ihre Wangen, die meist so Friselchen hatten wie Sophia an den Oberarmen, glühten dann rosig. In ihrem “äh” hatte mein schlechtes Gewissen genügend Zeit, sich darüber zu ärgern, welchen Blödsinn ich da wieder verzapft hatte. Ziemlich frustrierendes Twister im Kopf.

In Kindheits- und Jugendtagen hörte ich das Wort “Blödsinn” oft von meinem Vater. Nur das eine Wort. Wertung inbegriffen. Widerworte nicht erlaubt. Ich habe ihm oft Anlass für seine zweisilbige Bewertung gegeben. Ich machte mir über irgendetwas Gedanken, was meine Eltern für unnütz empfanden, darüber nachzudenken. Blödsinn. Ich schlug etwas vor, was ich gerne haben oder machen möchte, was leider genau das Gegenteil von dem war, was meine Eltern wollten. Blödsinn. Ich hatte Mist gebaut – auch eine Formulierung von Zuhause – und versuchte mir irgendeine plausible Erklärung aus den Fingern zu saugen. Blödsinn. Das war das letzte Wort und es durfte nicht von mir kommen, weil ich ja das Kind war. Es darf schließlich keine letzten Worte für Kinder geben. Nur erste Worte. Meins war Kakao. Das meines Bruders war Auto. Als er zur Welt kam, fühlte ich mich plötzlich nicht mehr als wäre ich neun, sondern als wäre ich Mutter. Ich kümmerte mich so gern um dieses kleine süße Baby, dass ich fast platzte vor Liebe und Fürsorge. Irgendwann saß ich in seinem Zimmer voller Spielzeug, das überall verstreut lag und wollte, dass er aufräumt. Deshalb rief jemand auf dem ausrangierten grünen Telefon an und durch den Hörer kamen stumme Anweisungen, die ich an meinen Bruder weitergab. Er führte sie aus, weil er dachte, die Eltern oder Großeltern wären am Telefon. Auch das war irgendwie Blödsinn. Aber dieses Mal war mein Vater nicht geneigt, die Bewertung herüber zu schmettern. Stattdessen hob er die Augenbrauen und schaute anerkennend und mit leicht verschwörerischem Blick zu meiner Mutter. Diesmal war er überrascht und fand mich schlau. Ich liebte diese kleinen Momente. Leider wusste ich nie, was ich tun musste, damit er wieder so guckte. Was ich sagen musste, damit er nicht fand, dass es Blödsinn war.


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