Der Krieg ist ein Topos der Weltliteratur. Von Angst, Schrecken und Gewalt getrieben, erzählen Autorinnen und Autoren seit Jahrhunderten Geschichten, in denen sie Liebe, Zusammenhalt und Menschlichkeit als Gegengewichte in ihre Werke setzten. Wie aber spricht man über Literatur im unmittelbaren Schatten eines Krieges? Diese Frage stellt sich gegenwärtig auf dem Literaturfestival "Lesen.Hören", das gestern in Mannheim zum 16. Mal startete. Programmleiterin Insa Wilke: "Die Literatur ist der Welt manchmal voraus, und manchmal wird sie von ihr eingeholt".
Gestern startete mit dem 16. "Lesen.Hören"-Festival in Mannheim eine Literaturveranstaltung, die plötzlich im Schatten eines Krieges steht, den nur wenige für möglich gehalten hatten. Bis zum 13. März werden namenhafte Autorinnen und Autoren wie Antje Rávik Strubel, Edgar Selge, Felicitas Hoppe und Herta Müller aus ihren Büchern lesen und über Literatur diskutieren. Wie aber spricht man über die Bedingungen des Schreibens, Erfindens, Erschaffens, wenn knapp 1000 Kilometer entfernt zur selben Zeit Existenzen zerstört werden? Darüber hat die Programmleiterin des Festivals, Insa Wilke, in einem Interview mit dem SWR2 gesprochen. Manchmal sei die Literatur der Welt voraus, sagte Wilke. Manchmal werde sie von ihr eingeholt.
Festival startet mit Felicitas Hoppes "Die Nibelungen"
Zum Auftakt des Festivals liest Felicitas Hoppe aus ihrem vielbeachteten Buch "Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm". Ein Roman, so Wilke, in dem es "um Angst, um Gewalt, aber auch um deren Rechnung und Widerstandshandlungen" gehe. Das Nibelungenlied sei in gewisser Weise ein europäischer Untergangsmythos, den es, auch mit Blick auf die gegenwärtige Situation, zu brechen gilt.
Ausgerichtet sei das "Lesen.Hören"-Festival in diesem Jahr auf die Frage, wie neue Gedächtnisräume zu schaffen sind. Gedächtnisräume, die mehr Platz bieten als das, was man unter Deutscher Erinnerungskultur versteht. Im Zuge dieser Suche wird auch danach gefragt, wie sich ein Ich innerhalb einer komplexen, unüberbrückbaren Welt verorten kann. Hier bieten Bücher etwas ganz einfaches, sagte Insa Wilke, nämlich Trost.
Sasha Marianna Salzmann: "Im Menschen muss alles herrlich sein"
Ebenfalls Teil des Festivals ist die Familiengeschichte "Im Menschen muss alles herrlich sein"der Autorin Sasha Marianna Salzmann, in deren Mittelpunkt die Sowjetunion und deren Untergang steht. Wilke betont, das Familiengeschichten auch Weltgeschichten sind, sich große weltliche Konflikte innerhalb bestimmter Familienkonstellationen immer auch im Kleinen spiegeln. So seien Familiengeschichten in der Literatur immer auch politische Geschichten. Hier könne Literatur seismografisch vorgehen.
Das 16. "Lesen.Hören"-Festival (Ankündigung)
Vom 24. Februar bis zum 13. März 2022 heißt es wieder: Licht an für das Lesen! Mit Intelligenz und Sprachwitz diskutieren Hadija Haruna-Oelker und Dunja Hayali über die Schönheit der Differenz, Buchpreisträgerin Antje Rávik Strubel bringt ihren großartigen Roman „Blaue Frau“ mit und Herta Müller ihre eigensinnigen Collagen. Edgar Selge erzählt von Kindheit, Kriegsfolgen und rettender Musik, Felicitas Hoppe schreibt die Nibelungen kurzerhand neu, Verlegerin Anna von Planta taucht in die Geheimnisse der Queen of Krimi Patricia Highsmith ein und Abbas Khider in die Unzuverlässigkeit der Erinnerung. Und das ist nicht alles! Die insgesamt 15 Veranstaltungen schlagen mühelos den Bogen zwischen literarischer Sprach- und Sogkraft bis hin zu politischen und sozialen Fragen unserer Gegenwart.