In seinem Roman "Internat" schickt der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan einen zunächst politisch desinteressierten Mittdreißiger quer durch einen niemals erklärten Krieg. Pascha, so der Name des Protagonisten, ist Lehrer von Beruf. Gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester lebt er bei seinem Vater in einem halbzerstörten Bahnhofshäuschen. Als der Vater befiehlt, Pascha solle seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat holen und nach Hause bringen, macht sich der Stubenhocker widerwillig auf den Weg. Es beginnt eine Reise, die uns den vergessenen Konflikt in der ostukrainischen Donbass-Region erneut vor Augen führt.
Es ist eine dreitägige Odyssee durch eine nurmehr schwarz-weiß gehaltene Welt, die der 35-jährige Lehrer Pascha in Serhij Zhadans Roman "Internat" hinter sich bringen muss. Und selbst wenn diese Welt eine "heile" wäre, wäre sie für den zurückgezogen lebenden Eigenbrötler eine feindliche. Pascha ist kurzsichtig, übergewichtig und kann seine rechte Hand nur eingeschränkt bewegen. Alles andere als ein Krieger also; vielmehr ein Stubenhocker, der mit niemanden reden mag und keinerlei politische Ambitionen hat. Den seit Wochen tobenden Krieg ignoriert er. Da er sich - nach Beginn der Kampfhandlungen 2014 - nicht politisch positionieren wollte, wurde er von seiner Freundin verlassen.
Der Himmel, eine erhitzte Eisenstange
Gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester und seinem Vater lebt Pascha in einem Eisenbahnhäuschen in der Ostukraine. Als der betagte Vater seinen Sohn auffordert, seinen 13-jährigen Neffen aus einem Internat abzuholen und nach Hause zu bringen, macht sich Pascha nur widerwillig auf den Weg. Dieser Schritt vor die Tür erscheint zugleich wie der allererste Schritt in die bedrohte und drohende Realität hinein, in einen nicht erklärten, hybriden Krieg, der physisch wie psychologisch an mehreren Fronten geführt wird. Gemeinsam mit Pascha treten die Leser in eine kalte und verwahrloste Umgebung, in der Serhij Zhadan den Ukrainekonflikt anhand impressionistischer, poetischer Beschreibungen aufflammen lässt.
Busse und Häuser sind leer, der Himmel glüht rot, einer "im Feuer erhitzten Eisenstange" gleich. Der kurzsichtige Pascha kämpft sich durch den Nebel, mit Bus und Taxi steuert er zunächst den Bahnhof an, der vollkommen verlassen zu sein scheint. Verängstigte Tauben suchen unter dem Dach Schutz. Als Sascha den Blick senkt, bemerkt er plötzlich ebenso viele Augen, die ihn anstarren aus der Dunkelheit. Der leere stille Bahnhof, dünkt Pascha, ist in Wirklichkeit voller Menschen; Frauen und Kinder, von Todesangst in die Stille getrieben.
Das ironisch überhebliche Westeuropa
Auf seiner Reise durch den Krieg, die der Kurzsichtige zunächst ängstlich tastend hinter sich bringt, lernt er den Auslandskorrespondenten Peter kennen, der aus Westeuropa in die Ukraine gereist ist, und selbst jetzt, im Kugelhagel, einen ironisch distanzierten Blick auf die schrecklichen Ereignisse wirft. Westeuropa, zeigt uns Serhij Zhadan hier, spricht bequem und von oben herab; spricht Sätze, für die die Redner nicht haben durchs Feuer gehen müssen und deren Wert anzuzweifeln ist, da sie morgen bereits problemlos zurückgenommen werden könnten. Selbstverständlich erteilt Peter obendrein Befehle, erklärt Pascha, wie er sich zu verhalten und was er zu tun hat. Als sich die beiden plötzlich mit vier Soldaten konfrontiert sehen, verschwindet Peter spurlos. Pascha bleibt allein zurück.
Diese kritischen, parabolischen Elemente erweitern die hochpoetischen Natur- und Umgebungsschilderungen deshalb auf großartige Weise, da sich Zhadan hier sehr eindringlich an einen prätentiösen europäischen Westen richtet, der auch in diesen Tagen wiederholt den Eindruck vermittelt, es genüge, ein paar kluge Sätze und wirtschaftliche Sanktionen auf den Weg zu bringen. Der offensichtlich jedoch nicht in der Lage ist, sich ernsthaft mit den Wunden eines Landes auseinanderzusetzen, und deshalb - wie die Figur Peter - aus ironischer Distanz spricht. Die gesamte Ukraine, heißt es schließlich an einer Stelle im Roman, sei im Grunde nichts anderes als ein riesiges Internat, ein Erziehungsheim.
In seinem Buch "Warum ich nicht im Netz bin" verglich Serhij Zhadan den Krieg mit einer Krankheit, die unerwartet ausbricht. In "Internat" zeigt er unter anderem, dass sich jene, die nicht unmittelbar von dieser Krankheit befallen sind, vorschnell als Ärzte aufspielen können, Ärzte, die, ohne sich ein genaues Bild von der Krankheit gemacht zu haben, pausenlos Medikamente verschreiben. Eindrucksvoll setzt Zhadan diese Kritik in eine Geschichte, die sich vor allem durch sprachliche Brillanz auszeichnet. Schluchten, finstere Keller, abgerissene Häuser werden zum Ausgangspunkt metaphorischer Bilder, die in ihrer Intensität immer auch über die ukrainischen Grenzen, über das nur Sichtbare hinaus auf einen allgemeinen Krankheitszustand verweisen.
Serhij Zhadan: "Internat"; Suhrkamp Verlag, 2018, 300 Seiten, 22 Euro