Filmemacher, Drehbuchautor, Fernsehproduzent, Schriftsteller, bildender Künstler... Alexander Kluge zählt zu den interessantesten und unnachgiebigsten Denkern des 20. und 21. Jahrhundert. Seine Gegenwartsbetrachtungen sind - was die Präzision anbelangt - kaum zu übertreffen. Stets extrapoliert Kluge als wacher Beobachter aus den Katastrophen der Vergangenheit; selten nur fehlt der Verweis auf einen Ausweg. Denn Auswege, so Kluge, gibt es immer. Kürzlich erst sind die Bücher "Zirkus/Kommentar" und "Das Buch Kommentare" erschienen, in denen der Autor zeigt, wie wichtig und reizvoll die Korrektur des Bestehenden ist. Heute wird Alexander Kluge 90 Jahre alt.
Alexander Kluges Umgang mit dem von der Welt pausenlos angespülten Material ist, im besten Sinne des Wortes, ein essayistischer. Ein Denker, der stetig weiterreist, der neue Gebiete erkundet, diese mit den eben verlassenen abgleicht und im Kontrast Eigenschaften erkennt, die unter den Bedingungen einfacher Beobachtungen verborgen geblieben wären. So steckt Napoleon irgendwo in den halsbrecherischen Manövern der Seiltänzer, der Akt des Dompteurs im Werk des Künstlers Gerhard Richter, deren Bilder Kluge textlich erweiterte. So postmodern und beliebig wie diese Methodik hier erscheinen mag, so ernsthaft und tief sind Kluges Einsichten. Zuletzt konnten wir uns davon in den beiden autobiografischen Büchern "Das Buch der Kommentare" und "Zirkus/Kommentar" überzeugen, die vor kurzem bei Suhrkamp erschienen sind.
Das Virus als ein Alien vom selben Planeten
Insbesondere in "Das Buch Kommentare" beschäftigt sich Alexander Kluge mit der unmittelbaren Gegenwart, die voll und ganz im Lichte eines Virus steht, welches er im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur als ein "Alien vom selben Planten" bezeichnete. In den ersten Wochen war Kluge, wie wohl viele von uns, regelrecht verblüfft von dem Umstand, wie "solidarisch" und "intelligent" die Menschen auf das Virus reagiert haben. Dass dieser solidarische Umgang nicht nur nicht lange anhielt, sondern, jedenfalls bei gewissen Teilen der Bevölkerung, recht schnell in sein unsolidarisches Gegenteil umschlug, zeige auf, "was wir an guten und schlechten Eigenschaften mit uns herumtragen"
Wer sich an den Roman "Die Pest" von Albert Camus erinnert, weiß, woher dieser Kerngedanke stammt. Im Angesicht der drohenden Gefahr zeigt sich Charakterstärke ebenso wie Schwäche. Eine bittere Erkenntnis, die wir unter dem Eindruck der Corona-Pandemie gewonnen haben, ist, dass Menschen sich existenziell bedroht fühlen, wenn ihre Weltreichweite und also ihr Konsumtionspotential eingeschränkt wird. Kluge respektiere das Virus. Es sei intelligent, mutiere innerhalb kürzester Zeit, optimiert seine Chancen und teste seine Umgebung gründlich aus.
Die Bundesregierung verfahre seiner Meinung nach "ein kleines bisschen zu administrativ". Dennoch könne er Verständnis für so manches Schlingern und die ein oder andere Fehlentscheidung aufbringen. Schließich sei die Situation extrem herausfordernd und vollkommen neu.
Das Glück der sich offenbarenden Auswege
Kluges schier unendliche Lust, Verschüttetes wieder ans Tageslicht zu bringen, könnte auf jenen 8. April 1945 zurückgehen, an dem er - gerade einmal 13 Jahre alt - während eines Bombenangriffs verschüttet worden war. Nur zehn Meter neben ihm schlug die Sprengbombe ein. Es dauerte eine Weile, bis der Verschüttete einen Ausgang zum Nachbarhaus fand. Von dort aus ging es weiter ins nächste und übernächste Haus. Die Zerstörung seiner Heimatstadt Halberstadt sowie das eigene Überleben prägten sich tief ins Bewusstsein des Autors und klingen heute noch nach in dem Satz: "Es gibt immer einen Ausweg"
Alexander Kluge hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Auswege aufzuspüren und aufzuzeigen. Für sich und für andere. Seine Engagement ist dabei unerschöpflich, seine Lebens- und Suchlust scheint nicht nachzulassen. Er kommentiert, trägt ab und schürft noch immer. Das schlimmste wäre diesem Denker wohl der Stillstand.
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