Mit seinem letzten großen Werk "Anfänge" hat sich der 2020 verstorbene Wirtschaftsanthropologe David Graeber nicht weniger vorgenommen, als eine neue "Geschichte der Menschheit" zu schreiben. Verfasst hat er es gemeinsam mit dem renommierten Archäologen David Wengrow. Kernthese ihres Buches: Die oft als linear und unvermeidlich gedachte Entwicklung vom Wildbeutertum zur landwirtschaftlichen Zivilisation, auf deren Tableau sich Privatbesitztum, Verwaltung, Ausbeutung und Hierarchien bildeten, ist alles andere als natürlich und festgeschrieben. Im Gegenteil. Eine sich durch und durch auf die Konsequenz richtende Welt widerspricht dem Selbstbild vieler älterer Kulturen.
Gerade in den Industrieländern wird das Narrativ sozialer Evolution häufig als ein linearer Verlauf gedacht, dessen Etappenpunkte Produktivsteigerungen kennzeichnen und der geradewegs dahin führt, wo wir uns gegenwärtig befinden: Ins tägliche Warten auf Erneuerung. Der Wirtschaftsanthropologe David Graeber zeigt in seinem gemeinsam mit dem Archäologen David Wengrow verfassten Monumentalwerk "Anfänge", dass diese scheinbar fixierte Denkrichtung dem Selbstbild diverser Kulturen widerspricht. Die auf Konsequenz gerichtete, teleologische Menschheitserzählung erzeugte und erzeugt nurmehr Zwänge, mit deren Ausmaß wir uns gegenwärtig konfrontiert sehen. Die Fragen: "Wie wollen wir leben?", "wie bedroht ist die Demokratie", "Was für Alternativen gibt es" drängen sich immer stärker auf. Graeber selbst sprach bereits 2012 von einer extrem chaotischen Situation, die er mit dem Untergang des Römischen Reiches verglich. Von außen sehe vieles "wie eine Katastrophe in Zeitlupe" aus. "Aber tatsächlich kann es auch eine soziale Erneuerung von unten sein." ("ttt-titel, thesen, temperamente")
Auswege aus der Katastrophe?
Die Fortschrittslogik, die sich, einem Religionsersatz gleich, fest in uns eingenistet hat und die wir mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit als universal setzen, widerspreche geradezu der archäologischen Evidenz, so Graeber und Wengrow. Anhand von historischen Beispiele zeigen sie in ihrem Buch unterschiedlichste Subsistenzformen, die Menschen zum Teil vor Jahrtausenden praktizierten, um ihr Überleben zu sichern.
Um aufzeigen, welche Auswege es aus unseren gegenwärtigen Krisen gibt, müsse man 10.000 Jahre in der Geschichte zurückgehen; dort beginnen, wo begann, was wir heut nicht selten als den natürlichen Lauf der Dinge bezeichnen. Wir alle glauben, die Entwicklung der modernen Gesellschaft sei eine zwangsläufige und alternativlose gewesen. Ein Prozess, der in der späten Steinzeit mit dem Sesshaft-Werden der Menschen und der Erfindung der Landwirtschaft begann, sich dann über Jahrhunderte und Jahrtausende sublimierte, um schließlich dort zu enden, wo wir uns heute befinden. Vorübergehend, versteht sich.
Graeber und Wengrow zeigen nun nicht nur, dass diese These falsch ist, sondern auch die desaströsen Folgen, die mit einem solchen Mythos einhergehen. Die Fortschrittserzählung komme einer Fußfessel gleich, die uns erstarren lässt in dem Glauben, wir müssten soziale Ungerechtigkeiten und radikale Freiheitseinschränkungen hinnehmen, um in einer komplexen Gesellschaft miteinander leben und überleben zu können.
Gegenbeispiele
Beispiele alternativer Gesellschaftsformen finden die Wissenschaftler überall auf dem Planeten über Jahrtausende verstreut. Etwa die Stadt Çatalhöyük in der heutigen Türkei, wo Männer und Frauen bereits zur Steinzeit gleichberechtigt waren und Familie - unberührt von erdrückenden Machtansprüchen Dritter - autark wirtschafteten und lebten. Ein weiteres, nicht ganz so weit zurückliegendes, Beispiel ist Kanada. Als die Franzosen das Land im 18. Jahrhundert eroberten, trafen sie nicht etwa auf primitive Stämme, sondern auf entwickelte Gesellschaften. Während Frauen im damaligen Europa - ebenso wie ärmere Menschen - ausgeschlossen und ungleich behandelt wurden, stieß man in Kanada auf eine wesentlich freiere und selbstbestimmtere Gesellschaftsform. Ein weiteres Beispiel findet sich in Mexiko. Hier befand sich vor etwa 2000 Jahren eine der ersten Großstädte der Erde. In Teotihuacán lebten über 100.000 Einwohner. Etwa 300 nach Christus änderte sich die Sozialstruktur der Stadt dramatisch. Man wandte sich vom bis dato etablierten Herrscherkult ab, und schuf eine Stadt für die Menschen, indem man sozialen Wohnungsbau und eine egalitäre Demokratie einführte.
Anhand dieser eindrucksvollen Beispiele, die von vielen ihrer KollegInnen schlichtweg übersehen oder als bloße Ausnahme abgetan wurden, verweisen Graeber und Wengrow auf den Umstand, dass das vielleicht größte Problem gegenwärtiger Lösungsvorschläge darin besteht, dass wir sie in der Zukunft zu erkennen glauben. Vom Fortschritt in Beschlag genommen, erscheint uns jeder Blick in die Vergangenheit zugleich wie ein Schritt in die falsche Richtung. Sollten wir uns von dieser Tendenz nicht verabschieden können, werden wir unsere essentiellen Probleme nicht erkennen, geschweige denn lösen können.
David Graeber, David Wengrow: "Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit"; Klett-Cotta 2022, 672 Seiten, 28 Euro