"Der Tot ist das Einfache. Sterben kann ein Idiot." - heißt in einem von Heiner Müllers "Diagnose"- Gedichten, in denen er, den Speiseröhren-Krebs bereits in der Stimme, seine Krankenhausaufenthalte und also sein Sterben thematisierte. Mit einem Müller-Zitat die Besprechung zu Ronja von Rönnes neuem Roman "Ende in Sicht" zu beginnen, liegt - bei allen offensichtlichen Differenzen - insofern nahe, als es sich bei beiden Autoren zunächst einmal um Figuren handelt, denen ein gewisser Pop-Star-Status zugeschrieben werden kann. Bei von Rönne ist dieser Status mit Sicherheit stärker an ihren Publikationen gebunden; an der Schmissigkeit, die wir aus ihrem "SUDELHEFT"-Beiträgen und ihrem Debütroman "Wir kommen" kennen. Müllers Werk entzieht sich einer solchen Zuschreibung; ihm stülpte man den Pop-Star aufgrund der Wirkung über, die er als öffentlicher Intellektueller hinterließ. Vom Sterben schreiben beide. Auch von der Frage, unter welchen Umständen ein Leben lebenswert wäre. Mit von Rönnes neuem Roman wurde nun ein weiteres verbindendes Element deutlich: Die radikale Konsequenz.
Zwei Protagonistinnen, zwischen denen 51 Jahre liegen, und deren Entschlüsse, ihr Leben zu beenden, wortwörtlich aufeinanderprallen. Die jüngere von beiden, die Schülerin Juli, ist gerade einmal 15 Jahre alt. Ihre Depression treibt sie auf die Autobahnbrücke. Sie springt und schlägt vor dem Auto der 69-jährigen Hella auf. Die war ihrerseits soeben auf dem Weg in die Schweiz, um ihrem Leben qua Giftcocktail ein Ende zu setzen. Eine Konfrontation. Auch mit der ersten Idee: Wenn das Leben ohnehin nicht mehr lebenswert scheint, spielt auch der Generationenkonflikt keine Rolle mehr...
Zufriedenheit ist unproduktiv
Die Autorin Ronja von Rönne war in den vergangenen Wochen nach einer längeren Öffentlichkeits-Pause wieder vermehrt auf der Bildfläche zu sehen. Dort sprach sie, natürlich, über ihr neues Buch; vor allem aber über ihre Depressionen und darüber, dass ihr neuer Roman nicht aufgrund, sondern trotz ihrer psychischen Erkrankung entstanden ist. Gegen den Widerstand der Lebensmüdigkeit, der Lustlosigkeit, der Bewegungsunfähigkeit; vielleicht, um dem einen oder anderen noch einmal nachdrücklich das Van Gogh- und Edvard Munch- und Franz Kafka-Marketing aus den Köpfen zu treiben; um zu sagen: Ja, sicher, Zufriedenheit ist ein unproduktiver Zustand. Depressionen sind es aber, in einem noch viel größerem Maße, auch.
Das Verlassen-Werden als Punkt der Annäherung
Da Ronja von Rönne öffentlich über ihre Depressionen sprach, liegt es natürlich nahe, in einem von ihr geschriebenen und sich mit dem Thema Depression befassenden Roman, autofiktionale Elemente erkennen zu wollen.Von Rönne weiß das, und setzt gerade aus diesem Grund einen eindeutig fiktionalen Plot. Sie entfernt sich mindestens 15 Jahre von ihren beiden Protagonistinnen. Die Irrungen der Teenager-Jahre, wie sie bei Juli eine Rolle spielen, liegen ihr ebenso fern wie das Schicksal Hellas, die einst eine erfolgreiche Schlagersängerin war und nun nichts anderes mehr tut, als still in ihrem Zimmer zu sitzen und starrend auf das Ende zu warten. Aber natürlich kann die eigene Biografie nicht restlos aus einem Text gestrichen werden, und wir können zumindest annehmen, dass von Rönne, nicht nur altersmäßig, irgendwo zwischen ihren Figuren liegt.
Die jedenfalls, sind sich zunächst alles andere als sympathisch. Nachdem Hella die vom Sturz verletzte Juli rechtzeitig auf der Autobahn erkennt, hält sie und zerrt die Verwundete an den Fahrbahnrand. In den nun folgenden Gesprächen und Betrachtungen sticht immer wieder zynischer Witz hindurch. Da ist beispielsweise die Schilderung der Allgegenwart der Depressionen, die heutzutage ja jeder irgendwie mal hatte und für die es im Netz immer "ganz viel Verständnis" gibt. Andere Stellen wirken sachter, ruhiger. Beispielsweise, wenn von Julis Mutter die Rede ist, die Tochter und Mann verlassen hat. Um den Schmerz zu lindern erzählt der Vater dem Kind eine erdachte Geschichte: Die Mutter sei eine Schneckenforscherin, vielbeschäftigt und auf der ganzen Welt unterwegs. Zum Geburtstag bekommt Juli ein Schneckenhaus geschenkt, eine portable Erinnerung an die Mutter, welches sie, bis zu jenem Tag des Brückensprunges, stets bei sich trägt. Mit dem Aufschlag zerbröselt die jahrelange Lüge.
Komplikationen mit der Mutter gibt es auch in Hellas Leben, die stets benachteiligt wurde, während ihre Schwester sich der mütterlichen Aufmerksamkeit stets gewiss sein konnte. Und so findet sich hier, ausgerechnet in der Abwesenheit, ein Punkt, der die beiden so unterschiedlichen Figuren biografisch zusammenführt. Die Flucht aus dem Leben führt zu einem Roadtrip der Lebensmüden. Beide Protagonistinnen sind sich die letzten Steine im Weg. Aber auch eine ungeheure Hoffnung, die ihnen beinahe entgangen wäre.
"Ende in Sicht"
Titelgebend und gewissermaßen paradigmatisch für den Roman ist die Episode, in der die ehemals so erfolgreiche Schlagersängerin Helga einem alten Fan auf einem Dorffest begegnet, der sie darum bittet, noch einmal ihren größten Hit "Ende in Sicht" zu singen. Als plötzlich der Akku des Mikrophons versagt, singt Hella weiter - Ende in Sicht, für sich allein. Das Publikum wendet sich ab. Als sie wenig später betrunken von der Bühne fällt, quellt Lachen auf. Juli ist es nun, die ihrer Retterin zur Hilfe eilt, und sie am Bühnenrand aufliest.
Ich schreibe nicht über meine, sondernd trotz meiner Depression, sagt Ronja von Rönne. Vielleicht kann man hinzufügen: Sie schreibt von ihrer Depression aus. Schreiben bedeutet dann nicht, Erlebtes literarisch aufzuarbeiten, sondern die Bearbeitung des gegenwärtigen Lebensbegleitenden. Das Gewirr der Höhen und Tiefen, die Manie und Schläfrigkeit, die Ohnmacht vor den Widersprüchen jedenfalls, sind in diesem Roman allgegenwärtig.
Ronja von Rönne - "Ende in Sicht"; dtv-Verlag, 256 Seiten, 22 Euro