Oft ist in diesen Tagen von bedrohlich erscheinenden, bevorstehenden Umbrüchen die Rede. Tiefgreifende Veränderungen, die wir zwar ahnen, aber nicht im Detail beschreiben können. Fast scheint es so, als hafte dem uns Bevorstehenden etwas Unheimliches an. Nicht selten hört man von fatalistischen Urteilen, die unabwendbar auf uns zukommen. Angesichts solcher Grundstimmungen lohnt es sich, auf Schriftsteller zu blicken, die von ähnlichen Stimmungen umgeben waren und getrieben wurden. Einer von ihnen war Franz Kafka. Experten aller Welt verweisen in unzähligen Veröffentlichungen immer wieder darauf, dass der in Prag lebende Schriftsteller unter anderem den Nationalsozialismus mitsamt seinen Gräueltaten vorausahnte. Die bürokratischen Irrwege und Fallstricke sind ein zentrales Teil in seinem Werk, ebenso der rigorose Kapitalismus und die Sprachlosigkeit angesichts patriarchaler Vorherrschaft. Kafka hat nie an Aktualität verloren, sein Stil dringt bis in die Postmoderne, seine Bilder erfassen noch die feinsten Alltags-Abzweigungen. Beklemmend und bedrückend erscheinen uns diese Texte; die stets von einer stummen, oft in den ersten Zeilen bereits angekündigten Ausweglosigkeit begleitet werden. Aus heutiger Sicht wirkt diese Prosa wie eine dunkle Prophezeiung; die einzelnen Sätze wie mit Gewichte behangen. Sie scheinen unermüdlich nach Auswegen zu suchen, im Wissen darum, das jeder der sich darbietenden Wege unausweichlich in einer Sackgasse endet.
Das Gefühl dieser eigenartigen Bedrängnis findet sich nicht nur in Kafkas Texten, sondern auch in seinen Tuschzeichnungen wieder. Bisher waren nur wenige dieser Zeichnungen bekannt. 2019 aber, tauchten über 100 bis Dato unter Verschluss gehaltene Blätter auf, die Jahrzehnte lang in einem Zürcher Banksafe gelagert wurden. Diese erscheinen nun, gemeinsam mit den bereits bekannten Arbeiten, gesammelt und kommentiert in dem Band "Die Zeichnungen" bei C.H. Beck.
Wie auf der Streckbank
Die Figuren in Kafkas Zeichnungen erscheinen uns als schwarze Gestalten mit in die Länge gezogenen Gliedmaßen. Wie auf der Streckbank malträtiert, und anschließend in den Alltag entlassen. Mal sitzen sie, den Kopf kraftlos auf die Hände gestützt, an einem Tisch, mal erscheinen sie, von Zäunen umgeben, dicht vor einem Ausgang stehend, erstarrt. Das Thema der unüberwindbaren Türschwelle, ein wiederholt auftauchendes Sujet in Kafkas Werk, schlägt sich auch hier nieder.
Insbesondere in seinen frühen Jahren, zwischen 1901 und 1907, zeichnete der später weltberühmte Schriftsteller enorm viel. Ein ganzes Heft voll mit Zeichnungen hat man nun entdecken können. Andere, lose Blätter wurden von Max Brod aus verschiedensten Zeichenheften geschnitten. Kafka wollte sie vernichtet sehen, wie die meisten seiner posthum erschienen Werke. Auch hier begegnen uns groteske und unheimliche Wesen, deren Gestik oft Rätsel aufgeben. Bisweilen kippen sie ins Absurde, beinahe in den Witz.
Für Kenner und Einsteiger
Begleitet, kommentiert und gedeutet werden die Abbildungen von den geschulten Blicken des Schweizer Kafka-Forscher Andreas Kilcher und der jüdisch-amerikanischen Literaturtheoretikerin Judith Butler. Somit stellt der Band "Die Zeichnungen" nicht nur für Kafka-Kenner eine wesentliche Bereicherung dar. Auch für Einsteiger ist dieses Buch wunderbar geeignet.
Franz Kafka (Herausgeber: Andreas Kilcher): "Die Zeichnungen"; C.H. Beck, 2021, 368 Seiten, 45 Euro