Alex Schulman: "Die Überlebenden" Ins Reine kommen

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Der schwedische Autor Alex Schulman schreibt, um seine eigene Kindheit aufzuarbeiten. Auch in seinem ersten Roman spielt die Erinnerung an die alkoholkranke Mutter und deren Beziehung zu ihren Söhnen eine zentrale Rolle. Schulman reichert diese Erinnerungen mit Fiktionalem an. Bild: dtv

Auch in seinem aktuellsten Buch, welches zugleich sein erster richtiger Roman ist, arbeitet sich der schwedische Autor Alex Schulman an seiner Kindheit ab. In "Die Überlebenden" werden autobiografische Elemente, die bereits in früheren Büchern und Beiträgen Schulmans eine gewichtige Rolle spielten, fiktional angereichert. Der Roman erzählt die Geschichte einer Familie, die zunehmend zerfällt. Die Eltern alkoholabhängig, die drei Brüder zerrissen. Nach vielen Jahren der Abgrenzung bringt sie eine einzige Aufgabe wieder zusammen: Das Verstreuen der Asche ihrer Mutter.

Nicht selten verbirgt sich der Schrecken hinter einer scheinbaren Idylle. Von außen betrachtet, hört man dann oft, wirkte alles so perfekt. Beziehungen, Familiengeschichten, Einzeltäter. Ideologien warfen stets einen unbefleckten Mantel über den stetig weiter anwachsenden Misthaufen, den sie produzierten. Heute sehen wir uns mit Produkten konfrontiert, die den Anschein erwecken, sie seien, so glatt und unbefleckt wie sie hinter dem Schaufenster erschienen, vom Himmel gefallen. Kein Dreck, keine Produktion, kein Kobalt, keine Menschenrechtsverletzungen.

Mit dem Bild einer scheinbaren Idylle beginnt auch der Roman "Die Überlebenden" des schwedischen Autors Alex Schulman. Ein Holzhaus auf einer weiten Wiese, ein See, von einem Wald umgeben. Ein Pärchen genießt, am Tisch sitzend, die letzten Sonnenstrahlen, während die drei Söhne, eben noch vom Vater angespornt, auf dem See um die Wette schwimmen. Das ist die heile Welt, die uns tagtäglich verkauft wird. Und die Verkaufenden sind glücklich darüber, dass wir oftmals nicht weiterlesen, nicht genauer hinsehen, dass wir zugreifen und gehen. Denn so übersehen wir glücklicherweise, dass die letzten Sonnenstrahlen verschwinden, die Dunkelheit einsetzten, die Eltern ins Haus zurückkehren und die drei Brüder, angsterfüllt und außer Atem, wie drei winzige Punkte in der Mitte des großen Gewässers um ihr Leben fürchten werden. Wir werden nicht sagen können: Sie überlebten nur mit gemeinsamen Kräften. Auch nicht: Sie überleben, um unzählige Male beinahe zu sterben.

Wir folgen dem Geschehen aus der Perspektive des mittleren Bruders, Benjamin. In jenem Sommer, in dem er beinahe ertrinkt, ist er neun Jahre alt. Pierre ist zwei Jahre jünger, Nils vier Jahre älter. Alle drei buhlen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, um die Aufmerksamkeit der alkoholkranken Eltern. Spärlich ist die von dort zu erwartende Liebe, und umso hartnäckiger stehen die Brüder stets in Konkurrenz zueinander. Zusammen halten sie nur in jenen Momenten, in denen es buchstäblich ums Überleben geht.

Zwei Erzählstränge

Alex Schulman zeigt uns die Irrwege einer Familie auf. Er entwirft zwei Erzählstränge, die, chronologisch entgegengesetzt, aufeinander zulaufen. Die Rahmenhandlung beginnt mit dem Eintreffen eines Polizeiautos am Sommerhaus der Eltern. Zwei der Brüder haben sich blutig geprügelt, beinahe totgeschlagen. Von dort aus beginnt der Rückblick, beginnt das Fragen danach, wie es dazu kommen konnte, woher der Hass rührt, die ungebremste Wut. Von den blutüberströmten Brüdern dringen wir bis zum Tod der Mutter vor, der der Auslöser dieses Wiedersehens am Sommerhaus war. Die Kinder, so schrieb sie in einem Brief, sollen ihre Asche unten am See verstreuen: "Ich möchte nicht, dass Ihr es für mich tut. (...) Ich möchte, dass Ihr es um Euretwillen tut."

Der zweite Strang beginnt dort, wo die Jungen um die Wette schwimmen. In diesem Sommer voller lebensbedrohlicher, dunkler und traumatischer Abenteuer. Er endet bei den Therapiestunden Benjamins, kurz nach seinem Suizidversuch.

Das Natürliche ist das Bedrohliche

Schulman zeigt die Idylle ungeschminkt, als Ort der inneren und äußeren Gefangenschaft, ohne dabei zu pathetisch oder gar larmoyant zu werden. Im Gegenteil schreibt er mit bezwingender Klarheit, mit einer Klarheit, die notwendig ist, um den sich ansammelten Überdruss der eigenen Kindheit sortieren und dechiffrieren, das Geschrei und Donnern im eigenen Hirn bändigen zu können.

Die Abwesenheit der elterlichen Fürsorge - das zentrale Motiv im Roman - wird dort deutlich, wo die Natur als Bedrohung erscheint. Die Weite des Waldes, beispielsweise, ist stets eine Gefahr. Das Eintreffen der Dunkelheit ist lebensbedrohlich. Und dann ist da noch die - ebenfalls natürliche - kindliche Neugierde, die Benjamin etwa dazu treibt, das kleine Trafohäuschen - Zutritt streng verboten! - zu erkunden. Das Surren und Brummen des Stromes fasziniert ihn. Er streckt die Hand aus, das Geräusch wird stärker, je näher er den dicken Rohren kommt. Er stirbt beinahe. Als er erwacht, liegt der von der Mutter stets getätschelte Familienhund Molly tot neben seinem verbrannten Körper. Ein folgenschwerer Verlust, der das ohnehin schon Brüchige Konstrukt endgültig zum Einsturz bringt.

Hunderte Seiten lang werden wir durch die Litanei der Brüder geführt, den existenziellen Überdruss sehr wohl spürend, aber nicht im Entferntesten daran denkend, das Buch zur Seite zu legen. Am Ende treffen Gegenwart und Vergangenheit aufeinander, dem brüderlichen Blut folgen die brüderlichen Tränen, und es bleibt den Dreien letztlich nur das, was auch Alex Schulman blieb: Die Sprache.


Alex Schulman (Übersetzung: Hanna Granz): "Die Überlebenden"; dtv, 2021, 304 Seiten, 22 Euro


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