Alles fließt, nichts bleibt

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Hier sitze ich und starre auf die Bücherwände, in denen tausende und abertausende Exemplare der deutschen Literatur dem Namen des Autors nach in alphabetischer Reihenfolge eins nach dem anderen eingegliedert sind. Die bunten Farben der Buchrücken definieren jedes zu einem einmaligen und besonderen Teil des überwältigenden Gesamtbildes. Ich versuche mich zu konzentrieren, versuche, meine Gefühle zu erfassen, aber es fällt mir schwer. Die Idee, in einer Bibliothek zum Schreiben inspiriert zu werden, war wohl eine Illusion. Ich versuche es dennoch und da drängt sich mir eine Frage besonders auf, dessen Beantwortung mich vor eine große Hürde stellt: Wie komme ich da wieder raus? Nicht aus der Bibliothek, nein, aus etwas, was ich ihr gegenüber erwähnte. Wie konnte ich so dreist sein und ihr sagen, dass mein Herz den Verstand oft nicht versteht. Das entspricht natürlich der Wahrheit, aber warum erwähne ich das? So unüberlegt im Ausdruck. So unüberlegt in der Botschaft. Die Abstraktion dieser Aus- sage stellt den Rahmen für allerlei Interpretationen und das empfinde ich in einer solchen Situ- ation und Angelegenheit verantwortungslos von mir. Gerne würde ich mich bei ihr entschuldigen.

Ich frage mich, denkt sie je an mich? Oder vergisst sie mich, nachdem sich unsere Wege trennen? Die Vorstellung, ihr zu Hause zu verlassen, mein Herz ihrer wohligen Wärme zu ent- reißen, ist wie ein Sprung ins Nichts. Ich falle und falle und jeder Moment ist dann erfüllt von Angst, im nächsten aufzuschlagen. Doch rettet mich die Erinnerung an das eben Geschehene. Es drängt sich mir unweigerlich ein Kampf zwischen Realität und Illusion, zwischen richtig und falsch, zwischen Freud und Leid auf. Ein Kampf, der keine Gewinner oder Verlierer kennt, lediglich einen Führenden. Ein Kampf, der nie endet.

Bedeuten ihr unsere Umarmungen etwas, in denen sich unsere Körper für wenige Momente der Ewigkeit fest aneinanderschmiegen; Momente, in denen wir uns eins fühlen, so, als wären wir einst in zwei Hälften getrennt worden? Empfindet sie einen Hauch Wehmut, eine Brise Glückseligkeit? Es wäre mir das schönste Geschenk, von Derartigem Kenntnis zu erlangen. Doch am Ende bleibt mir nur der Glaube, ein Gebilde meiner Fantasie, um mich vor dem ver- nichtenden Schmerz des Alleineseins zu retten. Wie eh und je erfahre ich den Sieg dieses dunk- len und kalten Ortes. Er hält mich fest, er zieht mich wieder und wieder in seinen Bann und ich kann nichts dagegen tun. Dann fühle ich mich wie gelähmt, kraftlos, hoffnungslos, will einfach nur aufgeben, mich fallen lassen, getrieben von Erlösung und der Sehnsucht, nichts fühlen zu dürfen. Und dann wird mir klar, ich sollte die Schönheit nicht festhalten. Dann durchfließt sie mich wie Wasser und ich kann nichts als Dankbarkeit empfinden für diese wenigen Momente der Verbundenheit.



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