Worte einer Mutter an ihren Sohn

Vorlesen

Da steht sie. Ich kenne sie nicht. Ihr Anblick jedoch imponiert mir. Nie zuvor sah ich je- manden so würdevoll, so aufrichtig, so respektvoll den eigenen Schmerz ertragen. In der einen Hand hält sie eine rote Rose fest, in der anderen die kleinen Finger ihres Sohnes. Es ist der Halt einer Mutter, deren Liebe in ihrem Kind Welten versetzen kann. Denn auch den Schmerz dieses jungen Herzens trägt sie auf ihren Schultern mit. Es ist der Halt, der auch diesem kleinen Men- schen ermöglicht, auf seine ganz eigene Weise über den Tod seines Vaters zu trauern. Sie beugt sich zu ihm und streckt ihm die Rose entgegen. Er blickt zu ihr, lächelt sie an. Dann führt er seine Aufgabe voller Stolz aus und legt sie am Grabstein ab.

Ich kann meinen Blick nicht abwenden und entschließe mich, dieses Geschehen noch einige Momente weiter zu verfolgen. Auf einer nahestehenden Bank lasse ich mich nieder und frage mich, wer dieser kleine Junge einmal sein wird. Was wird Liebe für ihn bedeuten? Wird er sein Herz verschließen, wenn er Schmerz fühlt? Oder wird er ihn genauso würdevoll ertragen, wie es ihn seine Mutter in diesem Moment lehrt?

Ich hole mein Notizbuch hervor und notiere einige Worte, die ich diesem Jungen in den Mund lege. Er spricht. 'Ob bei Sonnenschein, Regen oder Schnee, deine Liebe ist mir der näh- rende Erdboden, in meinem ganzen Sein in die unendlichen Weiten des Lebens emporsteigen zu können. In Verbundenheit mit dir zu wachsen, ist wie der Anblick des glänzenden Schim- mers einer im Raureif ruhenden Blume im nächtlichen Antlitz des Mondlichts. Im morgendli- chen Aufwachen drehe ich mich deiner Schönheit entgegen und erblühe im goldenen Schein deines strahlenden Herzens.'

Mein Blick wandert wieder auf den Jungen und seine Mutter. Diese Worte scheinen mir richtig. Sie beschreiben das Unausgesprochene, das dieser Moment für die beiden für immer festhält. Dann flüstert sie ihm etwas ins Ohr. 'Egal was passiert, ertrage den Schmerz. Liebe leidenschaftlich, mit allem was du bist und hast. Leidenschaftlich bedeutet, einhergehendes Leid in Kauf zu nehmen, weil die Sache es wert ist. Dein Leid ist dein Weg, lass es zu und gehe ihn. Auch wenn mein Körper vergangen ist, ich werde bei dir sein und die Welt aus deinen wundervoll strahlenden Augen betrachten. Der Schmerz ist dein Freund, behandle ihn gut. Er will, dass du weitermachst. Er will dir zeigen, dass dein Leben vor dir liegt. Er will dir verdeut- lichen, wie wertvoll es ist. Dass es sich lohnt. Er will dir klar machen, welch unvorstellbare Kraft du in dir trägst und dass du keine Angst haben musst. Niemals. Vertraue. Das Leben ist gut zu dir. Hör genau hin und es flüstert dir zu: "Schau mit dem Herzen, dann erkennst du mich." Siehst du es?'

Ich schließe mein Notizbuch.




Gefällt mir
7
 

Weitere Freie Texte

Freie Texte

Der stürmische Frühlingstag von Pawel Markiewicz

Pawel Markiewicz

Der grüne sanfte Lenz kam auf eine bunte Weise an mit ihm die numinose Bläue zarten Himmelszaubers doch ich schwärme hold-zärtlich von wilden Gänsen und Störchen die vor milden Wochen heimatwärts angeflogen kamen so wunderschön-fein scheint und funkelt meine lichte Heimat die tiefblauen Veilchen voller Glanz gaben lichtes Haus um ich sah mir zwei Schmetterlinge beim Träumen und Schwärmen an einer davon setzt sich auf den Kelch des Veilchens neuen Drangs zweiter Schmetterling fliegt im Lenzsturm ...
Freie Texte

Fiona: Hoffnung

FIONA

Die Hoffnung klopft, so zaghaft sacht, doch bricht sie jedes Mal bei Nacht. Auch wenn sie den tag über nur lacht Hält sie der gedanke trotzdem die ganze Nacht wach Es wird bestimmt klappen Und ich kann es auch schaffen Und ich werde mich auch trauen, ... doch ... ich könnte es auch versauen Die Hoffnung, einst so zart und klein, ertrank in Tränen, kalt und rein. Sie fragt nicht mehr, warum, wofür, denn jede Antwort schweigt in ihr. Hoffnung nur ein positives Gefühl Sie glaubte daran doch dass ...
lesering
Freie Texte

Die Sehnsucht. Pindars Ode

Paweł Markiewicz

Du wie die Träumerei geboren von dionysischen Oden wie zarter Tag in deinem Wind – verzaubertem Schmetterling so wie das Goldene Vlies – zauberisch in der anmutigen Phantasie graziöses Paradies verloren ist doch gefunden und so schwärmerisch Du lotos-zärtlicher Tagfalter du – über den Vulkanen mit sanfter Flügel-Verzaubertheit verewigt in den Zeiten Ich möchte sein wie Du und ewige dankende Augen ein Heer der Gefühle scheint in fernen Mythen Ländern Ich wäre linder und unendlich wunderbar wie ...
lesering
Freie Texte

Irena Habalik: Hinter den geschlossenen Türen

Irena Habalik

werden die Gabeln poliert für die nächste Zugabe wird Posaune geübt für das Jüngste Gericht zu große Brust flach gelegt und geschmeckt zu kleiner Kopf in den Topf gesteckt wird laut diskutiert über die Abwesenheit der Milch wird geklagt über das Nachlassen der Schwerkraft Hinter den geschlossenen Türen wird die Liebe kalt begossen werden die Messer gewetzt, in die Tasche gesteckt die Unwahrheiten serviert zu den Mahlzeiten wird Brecht zitiert und Benn applaudiert das Perverse wird hier probiert ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Maxima Markl: Zeit

Maxima Markl

Ich schaue auf die Uhr vor, nach und während einer Tat die Zeit vergeht wenn ich nicht hinschaue Das Ticken einer Uhr ein Herzschlag Bist du tot, bleibt die Zeit für dich stehen Du veränderst dich nicht Bleibst gleich Bis die Zeit alle geholt hat Die sich an dich erinnerten Und die Uhr tickt weiter Früher gab es keine Uhr Keine Zeit Die Tage verschmolzen ineinander Aber es gab auch keine Tage Nur hell und dunkel War die Zeit dazwischen Sie floss wild Ungebändigt Und doch so stetig Bis man ihr ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Gabriele Ejupi: Die Last

Gabriele Ejupi

Der Schnee lastet schwer auf den Zweigen. Sie senken sich unter dem Druck, geben nach, verlieren ihren Widerstand. So lastet auch die Bürde des Lebens auf unseren Schultern, und auch wir geben nach, gehen nicht mehr so aufrecht wie einst. Wir versuchen, einiges abzuschütteln, die Last zu vermindern, sie in eine weit entfernte Ecke zu schieben. War es wirklich wichtig? Nicht alles verdient es, bis ans Ende unserer Tage getragen zu werden. Erinnerungen verblassen, und mit ihnen wird die Last ...

Aktuelles