Der Soziologieprofessor Armin Nassehi beschreibt in seinem aktuellen Buch "Unbehagen" eine Gesellschaft, die permanent mit sich selbst überfordert ist. Die Kernfrage seiner Analyse lautet dabei: Warum gelingt es uns nicht, die von uns selbst geschaffenen Probleme zu lösen, obgleich uns alle Mittel und Ressourcen zur Verfügung stehen, die eine solche Lösung ermöglichen würden?
Zweifelsohne könnten wir uns schnell darauf einigen, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert der Krisen ist. In sämtlichen, längst digitalisierten, Teilbereichen unseres Lebens verfolgt uns dieser Begriff. "Krise" wird längst inflationär gebraucht - man spricht von Coronakrise, Flüchtlingskrise, Finanzkrise und Klimakrise so, als handle es sich bei diesen Phänomenen um ein und dasselbe Problem in jeweils unterschiedlicher Ausführung. Dabei wissen wir längst, dass es sich beispielsweise bei der "Klimakrise" um keine Krise im Sinne des Begriffes handelt, da sich die klimatischen Veränderungen und ihre weitreichenden Folgen weder überwinden noch überstehen lassen. Sie werden nicht einfach verschwinden. Und eben weil wir das wissen, wissen wir auch, dass wir lernen müssen, mit diesen Veränderungen zu leben. Dies wiederum setzt voraus, dass wir den CO2-Ausstoß rapide und so schnell wie möglich einschränken, denn wo kein menschliches Leben mehr möglich ist, wird sich kein Mensch mehr anpassen können. Auch wie wir das tun könnten, wissen wir. Wir haben die Mittel und die Möglichkeiten, können Vorschläge bringen und Konzepte entwickeln, die ein lebenswertes Leben ohne überschüssigen Verbrauch und übersteigerten Konsum gewährleisten. Die Frage ist, warum tun wir es nicht? Warum scheinen uns die Probleme, die wir selbst geschaffen und also nur selbst wieder abschaffen können, unantastbar? Mit dieser grundlegenden soziologischen Frage befasst sich Armin Nassehi, einer der einflussreichsten deutschen Soziologen unserer Zeit, in seinem aktuellen Buch "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft".
Nassehi, der dem "Expertenrat Corona" der NRW-Landesregierung angehörte, konstatiert zunächst eine Eigenlogik innerhalb der Gesellschaft und den einzelnen sich in ihr entfaltenden Lebensformen. Den alltäglichen Handlungsweisen der Bürgerinnen und Bürger läge oft der Zweck der Alltagsbewältigung zu Grunde, so Nassehi. Was über Jahre und Jahrzehnte tagtäglich als Praktik eingeübt wurde, ist nur schwer zu abzulegen. Selbst dann, wenn wir genau wissen, dass wir exakt gegenteilig handeln müssten um unsere Probleme zu lösen, fällt es uns ungemein schwer, diese Alltags-Trägheit abzulegen. Es herrscht also eine nur schwer zu überwindende Diskrepanz zwischen der Erkenntnis darüber, was wir zu tun hätten, und unserem eingeübten Handeln. Neudeutsch könnte man diesen Befund als das Verharren in einer kollektiven Comfort-Zone bezeichnen.
Isolierte Probleme lösen
Unsere moderne Gesellschaft, so Nassehi, ist vor allem gut darin, einzelne, separierte Probleme zu lösen. Mit der Bewältigung kollektiver Probleme aber, sind wir überfordert. Die Corona-Pandemie bietet hierzu ein aktuelles und gut nachvollziehbarer Beispiel. Einzelne Gesellschafts-Segmente haben es während der Pandemie zu Höchstleitungen gebracht (beispielsweise die schnelle Entwicklung eines Impfstoffes). In anderen Segmente wiederum - die Bildungseinrichtungen wären hier zu nennen - scheiterten wir fundamental.
Nassehi zufolge liegt das daran, dass die einzelnen Segmente einer modernen Gesellschaft auch jeweils eigene Logiken verfolgen, auf die sie beschränkt sind. Auch wenn es zwischen Politik, Familie, Wissenschaft und Wirtschaft zweifelsohne verbindende Stränge gibt, so sind sind sie doch unterschiedliche Komplexe mit jeweils eigenen Zielen, Erwartungen, Leidenschaften und Interessen.
Kollektive Herausforderungen / Problemlösung
Wie also soll eine solch atomistisch strukturierte Gesellschaft, die sich aus zum Teil antagonistisch gegenüberstehenden Teilgebieten zusammensetzt, gemeinsam ein kollektives Problem lösen? Alle Versuche diesbezüglich müssen allein aufgrund der strukturellen Grundanordnung ins Leere laufen. Gesellschaft, so Nassehi, kann aufgrund ihrer Ausdifferenziertheit nicht kollektiv handeln. Somit perpetuiert sich die Überforderung und wird Dauerzustand.
Auf die Frage danach, wie wir diese Diskrepanz überwinden, aus diesem Erkenntnis-Handlungs-Dilemma herauskommen können, liefert Nassehi keine einfache Antwort. Ihm ist daran gelegen, die grundlegenden Strukturen nachzuzeichnen, die unsere Handlungsohnmacht bedingen. Er will zeigen, dass immer auch der Handelnde selbst - auch Armin Nassehi als derjenige, der dieses Buch schreibt - Bestandteil dieser komplexen und kollektiven Vernetzung ist.
Letztlich, so könnte man positiv aus Nassehis Analyse aussteigen, müsse man attraktive Alternativen schaffen, die sich bewähren. Der oftmals besprochene Umstieg vom Automobil auf öffentliche Verkehrsmittel beispielsweise, gelingt erst dann, wenn dieser Umstieg attraktiv erscheint. "Wenn Verzicht geübt werden müsste", sagt Nassehi, "dann muss der Verzicht wie ein Gewinn aussehen."
Armin Nassehi: "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft"; C.H. Beck Verlag, 2021, 384 Seiten, 26 Euro