In Eva Menasses Roman "Dunkelblum" werden die Abgründe einer Verdrängungskultur gespiegelt, die insbesondere in Österreich während der Nachkriegszeit Hochkonjunktur hatte. Der Widerstand gegen jedwede Veränderung, die Angst vor dem Aufbruch eines Geheimnisses, das dunkle, verbohrte Konservative ist in diesem Roman allgegenwärtig. "Dunkelblum" - eine österreichische Kleinstadt im Burgenland - liegt unweit der ungarischen Grenze. Die Bewohner beobachten schweigend, nehmen vieles auf, aber geben nichts ab. Wie die Bewahrer eines furchtbaren Schatzes misstrauen sie jedem Neuankömmling; denn schlimmer noch als die von Außen auf die Fassaden der Stadt fallenden Blicke, sind jene, die in sie eindringen, und Jahrzehnte lang verscharrte Geheimnisse ans Tageslicht zu bringen drohen. Allein bei Blicken, wird es in diesem Roman allerdings nicht bleiben...
Der Roman rekurriert auf ein historisches Ereignis, welches zwar nicht angesprochen wird, doch unverkennbar als Blaupause dient: 1945 wurden im burgenländischen Rechnitz etwa 180 jüdische Zwangsarbeiter in der Nacht vom 24. auf den 25. März erschossen und anschließend in einer eilig ausgehobenen Grube verscharrt. Das Rechnitz-Massaker hat viele Mutmaßungen, Gerüchte und Erzählungen angeregt - klar ist wenig. Die Rechnitzer, die etwas von dem Vorfall wussten, verschwiegen die schreckliche Nacht. Und eben hier, bei diesem Verschweigen, setzt Menasse an. Das flüchtig durch die Gassen rauschende Getuschel wird zu einem Ausgangspunkt ihres Romans.
Das Schweigen aufwühlen
"In Dunkelblum haben die Mauern Ohren, die Blüten in den Gärten haben Augen, sie drehen ihre Köpfchen hierhin und dorthin, damit ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert mit seinen Schnurrhaaren jeden Schritt." (Eva Menasse, "Dunkelblum")
Gleich dieser erste Satz eröffnet die unheimliche, beklemmende Atmosphäre, die sich im Laufe des Romans wie ein Grundton unter all die kommenden Begegnungen, Personen und Konflikte legen wird. Wir werden mit einer Stadt konfrontiert, in der sich, sobald ein Fremder sie betritt, sogleich die Gardinen hinter den Fenstern bewegen; sachte, kaum merklich. Eine Stadt, in der jeder jeden kennt, die wie ein ewiges Grau erscheint, in welchem die kleinste Abweichung augenblicklich als Störfaktor bemerkbar macht. Eine Stadt schließlich, die von nationalsozialistischer Vergangenheit geprägt ist. Der Arzt des Ortes hat die Praxis seines jüdischen Vorgängers "übernommen". Wir treffen auf einstige Nazis, die vehement die Kriegsverbrechen leugnen, die sie und ihre Kameraden begangen haben. Da ist Resi Reschen, die Wirtin im Hotel Tüffer, die dieses zu leiten begann, nachdem die jüdischen Besitzer fliehen mussten und nicht zurückkehrten. Bisher schweigt man auch darüber.
Entsprechend groß ist der Unmut, als sich eines Tages ein aus Boston angereister Fremder ein Zimmer mietet. Auf der Suche nach einem Massengrab beginnt dieser bald "unangenehme" Fragen zu stellen. Ältere Bewohner glauben in diesem Fremden jenen jüdischen Junge zu erkennen, der gegen Ende des Krieges von zwei Frauen hier versteckt worden war. Der vermeidliche Wiederkehren ist längst nicht der einzige, der Fragen stellen will.
Ins Innere vordringen
Jugendliche aus Wien reisen nach Dunkelblum, um den überwucherten jüdischen Friedhof zu restaurieren; eine andere Gruppe junger Menschen spielt mit dem Gedanken, ein Heimatmuseum oder wenigstens eine Dauerausstellung zu errichten, die sich mit den verschwiegenen Verbrechen Dunkelblums auseinandersetzt.
So stellt Menasse dem konservativ Eingesessenen eine internationale und junge Front entgegen, um somit auch den gegenwärtig immer stärker um sich greifenden Generationenkonflikt in den Blick zu nehmen. Die ältere, verschwiegene Generation fühlt sich regelrecht bedroht. Die von sich selbst zum Schweigen verurteilt Stadt wird zunehmend auf- und umgewühlt; vom Gestrüpp befreit wie der jüdische Friedhof.
"Es ist zu schrecklich, um darüber zu reden, und es gibt diese Tendenz in allen Menschen, glaube ich, Dinge ruhen zu lassen, um sich dem Schmerz und der Scham und der Schuld nicht mehr auszusetzen." (Eva Menasse)
Das Verschwiegene verteidigen
So stellt Menasse in ihrem Roman also dem konservativ Verschwiegenen sowohl die Wissbegierde als auch die Schöpfungslust, den Drang nach Veränderung gegenüber. Dunkelblum ist dabei selbstverständlich mehr als ein literarisch aufgearbeitetes Rechnitz. Dieses setzt nur den historischen Rahmen. Im Zentrum des Buches steht im Grunde die Frage nach dem Umgang mit historischer Verantwortung. Menasse erforscht, wie sich verdrängte Gräueltaten auf Menschen ablegen, wie ersticktes Wissen selbst zum Grauen werden kann. Die Bewohner verharren in Verteidigungsposition. Alles in ihnen ist verengt, gedrungen, verängstigt.
Wie verteidigt und bewacht man ein Geheimnis, ohne Aufsehen zu erregen? Man redet über banale andere Dinge, so, wie es der Bürgermeister Koreny tut, der pausenlos von eigentlich nicht existenten Problemen mit der Wasserversorgung spricht. Gegenwärtig kann man nicht anders, als hier eine Allegorie zum gegenwärtigen Wahlkampf zu sehen; das ständige Verweisen auf Nebenprobleme, um nicht grundlegende und unbequeme Tatsachen an- und aussprechen zu müssen ist in der Figur Koreny wunderbar nachgezeichnet.
Menasse zeigt aber auch, dass sich das Grundlegende seinen Weg bahnen wird, ganz gleich wie sehr man es zu verstecken versucht. Auf einer Wiese am Stadtrand wird das Skelett eines Toten aus der Nachkriegszeit gefunden. Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Als gegen Ende plötzlich die Dunkelblumerin Eszter Lowetz verstirbt und eine junge Studentin spurlos verschwindet, bekommen wir langsam einen düsteren Eindruck von der Wehrhaftigkeit konservativer Kräfte. Auch diese aber, wird nicht verhindern können, dass das bisher Verschwiegene ewig verteidigt werden kann. Die Geschichte, so macht und Menasse am Ende ihres fulminanten - zuweilen etwas breit erzählten - Romanes klar, geht weiter.
Eva Menasse: "Dunkelblum"; Kiepenheuer & Witsch, 2021, 528 Seite, 25 Euro