In Antje Rávik Strubels Roman "Blaue Frau" geht es um das Aufeinandertreffen von Ost und West, um sexuelle Gewalt und um einen langwidrigen Befreiungsprozess. Mit der Kraft der Sprache versucht sich die Protagonistin in diesem Buch ihren Traumata zu stellen. Ihre Reise führt quer durch Europa.
Adina, die weibliche Hauptfigur in Antje Rávik Strubels Roman "Blaue Frau", wächst in einem tschechischen Skigebiet im Riesengebirge auf. Sie geht nach Berlin, lernt Deutsch, bewegt sich im Kunst- und Kulturbetrieb, macht Erfahrungen mit lesbischer Sexualität. Anschließen geht es für ein Praktikum in die Uckermark, wo sie an dem Aufbau eines Kulturzentrums mitarbeiten soll, welches als Begegnungsstätte zwischen Ost und West angepriesen wird. Und ausgerechnet hier, an diesem Ort der Vergemeinschaftung, kommt es zu einem sexuellen Übergriff. Adina versucht über den Vorfall zu reden, wird allerdings nicht ernst genommen. Sie flieht, versucht sich vom Ort des Geschehens loszureißen, zu vergessen, und landet letztlich - nach einer von Angst, Scham und Gewalt getriebenen Reise quer durch Europa - gemeinsam mit einem noch immer wirkenden und sich zuspitzenden Trauma, in Helsinki.
Adinas sicherster Zufluchtsort ist das Internet, wo sie unter dem Namen "der letzte Mohikaner" auftritt. In verschiedenen Foren hofft sie auf jene zu treffen, die ihr Schicksal teilen. An die Menschenrechtsaktivistin Kristiina wird sie gegen Ende des Buches in einer Mail schreiben: "Wenn ich Ihnen nicht schreibe, komme ich um."
"kein", "nein" und "nicht"
Bis dahin treffen wir auf eine zerschmetterte Figur, die - auch mittels der Sprache - versucht, sich zu rehabilitieren. Es sind die Eindrücke eines fragmentierten Blickes, die uns die Autorin schildert. Von Helsinki aus beschreibt sie Adinas Europa-Flucht im Rückblick, eine Station nach der nächsten, beginnend in Harrachov, einem Touristenstädtchen im tschechischen Skigebiet, wo sie geboren wurde und später Glühwein an Touristen verkaufen wird. Hier träumt sie davon, nach der Schule nach Berlin zu gehen, um Deutsch zu lernen. Antje Rávik Strubel legt ihrer Protagonisten drei gewichtige deutsche Worte in den Mund: "kein", "nein" und "nicht". Worte der Abwehr, die ihr nicht helfen werden.
Nach einem Aufenthalt in Berlin - wo sie nicht nur mit der Kunstszene sondern auch mit lesbischer Sexualität in Kontakt kommt - reist sie weiter in ein uckermärkisches Dorf. Hier wartet ein vermeidlicher Job als Kulturvermittlerin. Was sich aber als Kulturvermittlungsbüro ausgibt, entpuppt sich nach Adinas Ankunft als ein heruntergekommenes Herrenhaus. Auch die Aufgaben, die das Mädchen zu verrichten hat, sind alles andere als klar. Der Investor kann sich ihren Namen nicht merken und nennt sie schlicht Nina. Als plötzlich ein windiger Vertreter mit "glänzenden Verbindungen in Berlin" auftaucht, spitzt sich die Situation immer weiter zu. Schließlich kommt es zu jenem Übergriff, der Adina in Richtung Finnland fliehen lässt.
In Helsinki lernst sie den aus Estland stammenden Hochschullehrer Leonides kennen, der in seinem tiefsten inneren noch immer unter dem Trauma der sowjetischen Besatzung Estlands leidet, und sich als ideeller Vermittler zwischen Ost und West betätigt.
Die blaue Frau
Auf einer weiteren, immer wieder in den Handlungsverlauf gestreuten Erzählebene, setzt Antje Rávik Strubel die Perspektive einer Ich-Erzählerin, die zunächst nur mit kurzen poetischen Sätzen, später dann ausführlicher in die Geschichte eingreift. Diese Ich-Erzählerin, die einiges mit der Autorin Antje Rávik Strubel gemein hat, lernt am Hafen von Helsinki die titelgebende "blaue Frau" kennen, die nicht als Individuum, sondern als dichterische Kraft auftritt; als ein fiktionaler Raum, der die Überwindung der Traumata durch die Literatur - eventuell - ermöglichen kann.
Im Laufe der Geschichte nähern sich Ich-Erzählerin und Protagonistin Adina immer stärker an, scheinen allmählich zu ein und derselben Person zu verschmelzen. Doch bleibt vieles unklar und rätselhaft. Antje Rávik Strubel zeigt damit auch die Labilität ihrer Protagonistin auf, die sich während der Rekonstruktion ihrer Geschichte in einem ständigen Schwebezustand befindet, verletzlich und ungeschützt. Am Ende zeigt die Autorin einen Ausweg: Das geschriebene Wort, der Satz, der Text. Die leise aber beständige Kraft der Literatur, mittelst der die eigene Vergangenheit aufgearbeitet, und das Unerträgliche zu einem erträglichen Bild der Gegenwart umgestaltet werden kann.
Antje Rávik Strubel: "Blaue Frau", S. Fischer, 2021, 432 Seiten, 24 Euro