In ihrem Roman "Identitti" wirft sich die Schriftstellerin Mithu Sanyal in einen Diskurs, der schnell aus den Rudern geraten und - so zeigt es dieses Buch unter anderem - Täter- und Opferrollen in Windeseile austauschen kann. "Identitti" ist klug, wild, und randvoll gefüllt mit schlagkräftigen Argumenten.
Nivedita, die Ich-Erzählerin in Mithu Sanyals für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman, studiert an der Heinrich-Heine-Universität Intercultural Studies/Postkoloniale Theorie. In den Sozialen Medien bezieht sie klar Stellung, wenn es identitätspolitischen Fragen geht. "Identitti", so der Name unter dem sie twittert und bloggt, scheut keine Auseinandersetzung. Sie hat von der Besten gelernt.
Die Wut Niveditas, die uns Mithu Sanyal in wunderbar absurden Szenen und imaginären Gesprächen mit einer indischen, sich mit abgerissenen Männerköpfen schmückenden Göttin zeigt, ist natürlich nicht unbegründet. Die in Düsseldorf-Oberbilk lebende Nivedita wächst mit dem Grundgefühl auf, es gäbe keinen Platz für sie in dieser Gesellschaft. Weder deutsch noch indisch genug, fand sie lange Zeit keine entsprechende Community, die ihre Zweifel und Schmerzen hätte teilen oder auch nur verstehen können.
Weiße müssen draußen bleiben
Dies ändert sich jedoch schlagartig mit dem Beginn des Studiums. Hier trifft sie auf die selbstbewusst auftretende und international von ihren Gegnern gefürchtete Professorin Saraswati (nach der hinduistischen Göttin der Weisheit benannt), die für Nivedita nicht nur ein wissenschaftliches Vorbild, sondern so etwas wie eine Mutterfigur wird. Saraswati ist der Star am Postkolonial-Pop-Himmel, tritt in sämtlichen Talk-Shows und Diskussionskreisen auf, wo sie ihr Buch "Decolonize your Soul" und ihre Theorien überzeugend und bis aufs Blut verteidigt.
In ihrem Seminaren müssen Weiße den Saal verlassen und draußen bleiben, werden kategorisch ausgeschlossen und nicht zugelassen. Saraswatis Botschaft: So fühlt sich Rassismus an. Ihre Studentinnen und Studenten sind demnach allesamt People of Color. Im Rahmen dieser imperativen Kategorisierung findet Nivedita endlich das schützende Dach, nach welchem sie so lange gesucht hatte. Umso schmerzhafter wird ihr nun erscheinen, was sich die Mithu Sanyal als Twist für ihren Roman ausgedacht hat.
Eine Schwindlerin!
Denn bald stellt sich heraus, dass Saraswati in Wirklichkeit weißer als weiß und deutscher als deutsch ist. Dass sie mit bürgerlichen Namen Sarah Vera Thielmann heißt, aus einer Zahnarztfamilie in Karlsruhe stammt und Eltern hatte, die, natürlich, weiß, deutsch und wohlhabend waren. Nach dem Studium in Indien unterzog sie sich einer Hormonbehandlung für den Hautton und einem chirurgischen Eingriff für die Augenlieder.
Die Community ist entsetzt. Alle sind entsetzt. Twitter macht das, was es eigentlich immer macht, nur jetzt vielleicht etwas konzentrierter: Es tobt, es schreit, es diskutiert kaum sachlich. Studierende demonstrieren, weltweit macht der Betrugsfall der bis eben noch hoch angesehenen Professorin Schlagzeilen. Nivedita ist tief getroffen. Ihr schützendes Dach, ihr großes Vorbild hat sie verraten. Sie fällt zurück.
Der Sturm bleibt draußen
Während nun draußen der Twitter-Sturm wütet (der im Buch ausgezeichnet vielstimmig und konfus dargestellt wird), beschließt Nivedita, ihre ehemaliges großes Vorbild persönlich zur Rede zu stellen. In einer Penthouse-Wohnung beginnt nun ein äußerst interessanter Diskurs über "race" und "gender", eine große Schlacht der Argumente, die noch einmal daran erinnert, dass wir es hier mit einer Autorin zu tun haben, die aus den Kulturwissenschaften kommt und das entsprechende Rüstwerk zur Hand hat.
Am Ende ist "Identitti" in erster Linie ein Buch, welches das vorschnelle und lediglich "erfühlte" Urteil in den Schatten stellen will. Denn einmal mehr sehen wir hier deutlich, dass vorschnell von Gefühligkeit getriebene Äußerungen vor allem eines sind: Waren, deren Abneigung Macht bedeutet.
Mithu M. Sanyal: "Identitti"; Hanser, 2021, 432 Seiten, 22 Euro