Annie Ernaux: "Das Ereignis" "... und sobald es wehtat, schreckte ich zurück."

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Auf ihre schriftstellerische Tätigkeit angesprochen, bezeichnete sich die französische Schriftstellerin Annie Ernaux einmal als "Ethnologin ihrer selbst". Ihr in Frankreich bereits im Jahr 2000 erschienener Roman „L'évènement“ ist nun unter dem Titel "Das Ereignis" bei Suhrkamp auf Deutsch erschienen. Bild: Suhrkamp Verlag

Gerade wurde der Film „L'évènement“ (Das Ereignis") der Regisseurin Audrey Diwan auf den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Als Vorlage des Films diente der gleichnamige, autobiografische Roman der französischen Autorin Annie Ernaux, der in Frankreich bereits im Jahr 2000 erschienen und nun auch hierzulande in deutscher Übersetzung erhältlich ist. Das Buch erzählt von der jungen Literaturstudentin Annie, die, im Frankreich der 1960er Jahre, beschließt, eine Abtreibung vorzunehmen. Auf legalem Wege unmöglich, denn in Frankreich waren Abtreibung zu jener Zeit gesetzlich verboten und gesellschaftlich geächtet.

Annie versucht dennoch, die Geburt zu verhindern. Sie sucht Ärzte auf, die sie immer wieder fort schicken; sie sucht Rat bei Freunden, die sich zum Teil beschämt von ihr abwenden. Schließlich versucht sie selbst abzutreiben.

„Am nächsten Morgen legte ich mich aufs Bett und schob mir vorsichtig eine Stricknadel in die Scheide. Ich tastete mich vor, fand aber den Gebärmutterhals nicht, und sobald es wehtat, schreckte ich zurück."

Alleine, so begreift Annie, wir sie es nicht schaffen. Apathisch, ruhelos sucht sie nach anderen Möglichkeiten. Bald trifft sie auf die ehemalige Hilfskrankenschwester Madam P.-R. Sie führt Annie eine Sonde ein, um so eine Fehlgeburt auszulösen. Der erste Versuch scheitert, der zweite glückt: Zwei Wochen später wird die Fehlgeburt ausgelöst, ein winziger Fötus, der, an einer Nabelschnur baumelt, unter Schmerzen geboren wurde. Annies Freundin O. ist mit anwesend. Sie holt eine leere Zwiebacktüte, Annie legt den Fötus hinein, geht zur Toilette, lehrt die Tüte aus, spült.

Innenleben sezieren

„L'évènement“ erschien in Frankreich bereits vor mehr als 20 Jahren. Romane wie "Der Platz", "Eine Frau" oder "Die Scham" waren dort schon in aller Munde, Ernaux wurde bereits mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet und als anerkannte Schriftstellerin in Frankreich gefeiert.

Ihre autobiografischen, sezierenden Romane, ihr lakonischer Stil ebenso wie die Art und Weise, Machtstrukturen offenzulegen, haben Annie Ernaux zu einem Vorbild einer ganzen SchriftstellerInnen-Generation werden lassen. Wenn man heute über die Methodiken des autobiografischen Erzählens spricht, kommt man an dem Namen Ernaux nicht vorbei. Es ist eben diese zuweilen emotionslose, kühle Umschreibung emotional aufgeladener, traumatisierender Situationen, die Ernaux Stil prägen. Ein mechanisch wirkendes Werkeln an einem hochsensiblen Körper.

Die "Ethnologin ihrer selbst" - so Ernaux Bezeichnung für ihre schriftstellerische Tätigkeit - setzt sich in ihren Werken mit gesellschaftlichen Widerständen sowie dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Schichten auseinander. Immer geht es dabei um das Sichtbar-Machen sozialer Macht- und Missbrauchsverhältnisse. Als Tochter zweier Fabrikarbeiter schaffte Ernaux den kulturellen und sozialen Aufstieg. Sie studierte, arbeitete als Lehrerin, und zählt heute schließlich zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen Frankreichs. Doch selbst diese - oft romantisch verklärte - Aufstiegsgeschichte sezierte sie und zeigte, dass ein kulturelles und soziales Gefälle alles andere als leicht zu ertragen ist, insofern man die Vor- und Nachteile beider Seiten zu spüren bekam.

Noch immer aktuell

Auch in "Das Ereignis" geht es um solche Machtverhältnisse, genauer: Um die Ohnmacht der Erzählerin gegenüber den Ärzten. Die schwangere unverheiratete Frau steht in "Das Ereignis" für die Unterschicht, für jene gesellschaftliche Gruppe also, die den Regeln und dem Diktat der Mächtigen (der Kapitalisten) ausgeliefert ist. Gerade in Hinblick auf die jüngsten Ereignisse in Mexiko, wo vor kurzem erst ein totales Abtreibungsverbot durchgesetzt werden sollte, zeigt sich die brisante Aktualität dieses Romans.


Annie Ernaux: "Das Ereignis" (aus dem Französischen von Sonja Finck); Suhrkamp Verlag, 2021, 104 Seiten, 18 Euro




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