In Thomas Kunsts Roman "Zandschower Klinken" stoßen wir auf eine chaotische Ansammlung diverser Gedankenblitze, Reflexionen, Einfälle und Ideen. Zusammengehalten wird diese wilde Prosa von einer rhythmischen, an Lyrik erinnernden Sprache. Kunst liefert ein Sammelsurium, wir dürfen uns bedienen. "Zandschower Kliniken" steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021.
Eine kleine, seltsame Gemeinschaft, die sich von der Außenwelt abschottet und sich in ein fiktives Dorf zurückzieht. Dies ist das erzählerische Fundament in Thomas Kunsts für den Deutschen Buchreis nominierten Roman "Zandschower Klinken". Einer von ihnen, Bangt Claasen, hat alles verloren. Eines Tages ist er in sein Auto gestiegen und losgefahren, wohin auch immer, auf der Suche nach einem neuen Leben. Als das Halsband seines toten Hundes vom Armaturenbrett gleitet und zu Boden fällt, hält Claasen und beschließt, sich niederzulassen.
Chaotische Welt
Zandschow heißt der kleine, fiktive Ort - ein "Nest im äußersten Norden", wie es im Roman heißt. Hier treffen sich von der Stütze lebende Außenseiter, und bilden eine Kolonie. Biere und Tänze, exotische Feste werden allabendlich aufgeführt, rund um den Feuerlöschteich. Kunst zeichnet Situationen, die einer gewissen Komik nicht entbehren. Feiert hier doch der gesellschaftliche Rest absurde Partys mit merkwürdigen Zeremonien. Die Bilder schießen nur so durch den Kopf des Protagonisten, und letztlich auf uns zu. Kunst zeigt uns hier eine Chronologie auf, die den Wahnsinn, der in Zandschow tagtäglich stattfindet, spiegelt: Gedankensplitter, abgerissene Erzähl-Ansätze, Fragmente, die atomistisch in die Atmosphäre gefeuert werden.
Gerade mit dieser Erzählanordnung zeichnet Kunst seine Protagonisten vor. Es sind Aussteiger, die alles verloren haben. Die von Stütze leben uns sich in der sogenannten "normalen Gesellschaft" nicht mehr blicken lassen können, ohne abwartende und entwürdigende Blicke zu empfangen. Auch solch ein Schicksal ist allzu oft die Konsequenz einer chaotischen Anordnung, einer überfordernden Welt, der man zum Opfer gefallen ist.
Sich dem Normalzustand widersetzen
Die Zandschowianer mögen keine Eindringlinge, verweigern jeglichen Kontakt mit der Außenwelt. Dass der Roman hin und wieder auf "Mapinduzi" - eine nur sechs Stunden andauernde Revolution, die 1964 in Sansibar stattfand - verweist, schafft die Ahnung eines ungefähren Vorbildes. Der Verweis auf North Sentinel Island im Indischen Ozean tut sein übriges. Die Inselbewohner lehnen bis heute jeglichen Kontakt zur Außenwelt ab. Kunst zeichnet seine Protagonisten über den Verweis auf historische Vorbilder, nachdem er sich grundlegend über die wirre Erzählweise skizziert hat. Die Außenseiter, die sich Zandschow zu eigen gemacht haben, sind davon überzeugt, die Umgebung vor Fremden und Touristen schützen zu müssen.
Unzählige Verknüpfungspunkte
So kommt in diesem Roman also einiges zusammen. Kunst liefert spannende Andeutungen, die der Leser selbst ausformulieren kann. Da ist zunächst der oftmals bemühte Begriff der Abgehängten, den Kunst wunderbar ins Gegenteil verkehrt. Er evoziert die Frage: Was, wenn sich alle Abgehängten organisieren und solidarisieren würden? Wären sie dann noch länger das, worüber sie sich, im negativen Sinne, definieren? Oder wären sie viellicht etwas sehr viel Besseres?
Dann trifft man unmissverständlich auf das Thema Kolonialismus: Eine Gruppe Menschen - aus westlicher Sicht zurückgeblieben - will sich der kapitalistischen Systemlogik entziehen. Eben das ist er Clou. Die hier vom System Bedrohten, sind ja bereits vom System selbst ausgestoßen worden. Sie organisieren sich, und schaffen etwas, das wiederum Schaulustige anzieht. Nicht selten haben wir es dabei mit Touristen zu tun, die von Kapitalinteressen geleitet werden. Und nicht zufällig ist auch das Thema DDR ein wichtiges und direkt benanntes in diesem Buch.
Also, es geht nicht minder um Gentrifizierung, um die Landnahme der Kapitalisten und um die Verteidigungsstrategien der sozial und gesellschaftlich Enteigneten, die ihr Territorium notfalls auch mit Waffengewalt verteidigen wollen. Ja, auch dies ist ein Punkt in diesem Roman: Die unumgängliche Radikalisierung einer beinahe zwanghaft hermetisierten Gruppe. Ja, auch die furchtbaren Zustände in Geflüchteten-Unterkünften sind hier herauszulesen. Thomas Kunst hat mit "Zandschower Klinken" einen gesellschaftskritischen Rundumschlag geschrieben, der nicht nur beeindruckt, sondern, sprachlich wie thematisch, das facettenreiche und kaum mehr erträgliche Flirren sämtlicher drängender Probleme kenntlich macht.
Thomas Kunst: "Zandschower Klinken"; Suhrkamp Verlag, 2021, 254 Seiten, 22 Euro