Felicitas Hoppes für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman "Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm" bietet ein großes Sammelsurium unterschiedlichster Verweise. Doppelbödig inszeniert Hoppe in ihrer Prosa ein Theaterstück - das Nibelungenlied - auf dem Domplatz zu Worms. Hauptprotagonist allerdings, ist weder Siegfried noch Brunhild, sondern der Schatz, die Goldgier, das Geld, die Kapitalakkumulation.
Eine Schauspieltruppe inszeniert das Nibelungenlied auf dem Domplatz zu Worms als Theateraufführung. Die Dramaturgie liegt in den Händen von Quentin Tarantino. Das Publikum tobt, lechzt danach, den Schatz - verkörpert durch die Figur eines Krüppels - endlich dingfest zu machen. Felicitas Hoppes "Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm" spielt auf einer Drehbühne, die von der Autorin in einem stetigen Rhythmus angestoßen, und die LeserInnen durch den Wahnsinn einer gierigen und nach Spektakel schreienden Gesellschaft führt. Übrigens: Die Inszenierung des Nibelungenliedes auf dem Wormser Domplatz ist eine Tradition, die 1937, während der Nazizeit, ins Leben gerufen, und 2002 wiederbelebt wurde. Ein Indiz der scheinbar niemals sterbenden Sehnsucht nach einer guten alten Heldentradition.
Das Publikum schreit nach mehr
Wir erinnern uns kurz zurück: Siegfried, der Königssohn aus Xanten und Besitzer des Nibelungenhorts, verhilft dem Burgunderkönig Gunther zur Heirat mit Brunhild. Siegfried selbst vermählt sich mit Gunthers Schwester Kriemhild. Als es nach Jahren zum Streit zwischen den beiden Frauen kommt, ermordet ein Gefolgsmann Gunthers - Hagen - Siegfried, und versenkt den Nibelungenhort im Rhein.
Natürlich sind auch in Felicitas Hoppes Nibelungen-Inszenierung jene altbekannten Figuren zugegen. Doch Siegfried, Brunhild, Hagen und co. treten hier weitestgehend in den Hintergrund. Den großen Auftritt überlassen sie dem begehrten Schatz, der im Roman mit "Die goldene Dreizehn" betitelt und durch die Figur eines einbeinigen, saufenden Krüppels dargestellt ist. Hauptprotagonist ist also das Gold, das Kapital, beziehungsweise die Kapitalsucht, der Produktfetisch, um dem sich das stetig nach Mehr schreiende Publikum, der neoliberale Pöbel gruppiert.
Die Zusammenstellung der an der Inszenierung beteiligten Personen klingt nach einer wunderbaren Dorfsatire: Regie führt Frau Kettelhut; der Männerchor Worms-Pfiffingheim bringt Musik ins Spiel und in die unbenannten Nebenrollen sind mit den Mitgliedern des Wormser Ruderclubs Blau-Weiss besetzt. Interessant, wie Hoppe hier den "Kleinen Mann" zum Beiwerk des im Scheinwerferlicht strahlenden Kapitals macht. Das tritt umso stärker hervor, wenn wir lesen, das Quentin Tarantino für die Dramaturgie zuständig ist.
Eine Beobachterin zwischen den Stücken
Erzählt wird der Roman aus der Perspektive einer Beobachterin des Stückes, die als Drehbuchautorin auch unmittelbar an der Inszenierung beteiligt war/ist. Interessant ist nun Hoppes Einfall, jene Beobachterin in den Theaterpausen in die Umkleidekabinen zu schicken, wo sie die Schauspieler interviewt. Damit gelingt es Hoppe, die Gegenwart in den traditionellen Mythenstoff einzuschleusen. Geradezu genial wird dabei die gegenwärtige Sehnsucht nach Mythen und Erzählungen gezeigt. Aus näherer Perspektive natürlich eine Anspielung auf die gegenwärtig grassierenden Verschwörungsmythen; etwas weiter ausgeholt aber auch eine literarische Darstellung dessen, was uns die Dialektik der Aufklärung bereits bewusst machte.
Felicitas Hoppe hat mit "Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm" einen Roman geschrieben, in dem unzählige Verweise in mehreren Versuchsanordnungen kombinierbar sind. Schon der Titelzusatz "ein Deutscher Stummfilm" (Ein Verweis auf den 1924 erschienenen Fritz Lang-Film) ist in Anbetracht des nach Bockwurst gierenden Publikums in mehrfacher Hinsicht lesbar. So verschiebt sich in diesem Roman alles, sobald sich die Drehbühne in Bewegung setzt. Geklärt ist am Ende nichts. Wie auch, in einer von Eindrücken überfluteten Welt, die um so vieles komplizierter ist als jene, in der es nicht zu rütteln gab, an den großen Heldenmythen und Sagen.
Felicitas Hoppe: "Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm", S. Fischer, 2021, 256 Seiten, 22 Euro