Distinktion, eine Prise Wahnsinn und Übermut. In dem Roman "Der zweite Jakob" von Norbert Gstrein geht es um einen bald 60-jährigen Schauspieler, der ständig mit der Rolle des Frauenmörders kokettiert. Immer unklarer werden dabei allerdings die Grenzen zwischen Schauspiel und Realität...
Ausgangspunkt dieses für den Deutschen Buchpreis nominierten Romans ist ein Gespräch zwischen dem Schauspieler Jakob Thurner und einem Biografen, den er in seine Wohnung geladen hat. Jakob, der den besagten Biografen ausdrücklich verabscheut, ihn ständig verbessert und sich pausenlos aufspielt, berichtet ausschweifend aus seinem Schauspieler-Leben: die Reisen, die Sets, die Abenteuer. Drei Frauen, erfahren wir bald, hat er in zwei Filmen getötet. Es sind diese Frauenmörder-Rollen, die ihm bis heut ganz besonders am Herzen liegen.
Filmhandlung oder vermeidlich Realität?
Auf dieser ersten aufbauend, entwirft Norbert Gstrein unterschiedliche Erzählebenen, die er im Laufe seines Romanes geschickt verdichtet und verwebt. Schnell befinden wir uns nicht mehr in Innsbruck - Jakobs Wohnort - sondern inmitten einer Thriller-Szene nahe der mexikanischen Grenze. Thema: machistische Gewalt und Femizide. Darstellung: Breitbeinig über vermeidliche Morde diskutierende Männer. Die Erinnerung des Protagonisten an seine Frauenmörder-Rolle in diesem Film überlappen sich ständig mit einer Reihe von Morden, die zu jener Zeit tatsächlich im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet stattfanden. Bald schon ist nicht mehr klar, ob es sich um eine Filmszene oder um die vermeidliche Realität handelt.
Im nächsten Augenblick sehen wir Jakob selbst, wie er eine Mexikanerin beim Oralsex würgt, die er soeben am Straßenrand aufgelesen hat. Ein Mordversuch? Unkontrollierte Erregung? Dann: Ein Autounfall, der ebenso zweideutig und wage bleibt. Gemeinsam mit einer Schauspielerkollegin fährt Jakob durch New Mexiko, als es plötzlich einen dumpfen Knall gibt - "... gar nicht einmal so laut und gar nicht einmal so heftig, aber doch einen sehr spezifischen Knall, von dem ich eine Zeitlang, als ich den Vorfall nicht aus meinem Kopf zu tilgen vermochte, nicht abzubringen war, dass er anders geklungen hätte, wenn er von einem Tier gekommen wäre und nicht von einem Menschen." Offen bleibt, wer von den beiden gefahren ist, ob man nicht auch hier von Mord sprechen könnte und ob die Frau überhaupt gestorben ist.
Familiengeschichte
In dieses künstlerische Vexierspiel drängt sich stetig die Familiengeschichte Jakobs. Von seiner Frau ist er bereits seit längerem getrennt. Auch die Beziehung zu seiner Tocher Luzie scheint alles andere als einfach zu sein. Diese ist im Übrigen auch zugegen, als der Biograf mit seiner Arbeit beginnt. Sie schlägt sich, mit einer merkwürdigen Neugierde, auf die Seite des Journalisten, löchert den Vater stetig mit Fragen. Dann ist da noch der als "komisch" geltende Onkel Jakob, dessen Name der Schauspieler prompt als Künstlername übernommen hat. Diese nur wage angedeutete Existenz des Onkels trägt bereits den ganzen Wahnsinn in sich, der sich im Laufe des Romans aufbauscht und letztlich in der Figur des "zweiten Jakobs" seinen direktesten Ausdruck findet.
"Der zweite Jakob" ist ein düsterer, zerschmetternder Roman, der auf komplexe Weise darstellt, wie sich Wut akkumulieren und in fatalster Weise auf die Gesellschaft auswirken kann. Gstrein versteht es, aus einen solipsistischen Helden einen krankhaften Narzissten werden zu lassen, der, unausweichlich von der Welt enttäuscht, letztlich auch nicht mehr vor physischer Gewalt zurückschreckt.
Norbert Gstrein: "Der zweite Jakob"; Hanser Verlag, 2021, 444 Seiten, 25 Euro