Als Baby wird Annika in einer kleinen Kapelle in den Alpen ausgesetzt und dort von einer Köchin entdeckt, die sich bei einer Wanderung ein wenig auf der Kirchbank ausruhen möchte. In dem Kultbuch „Annika und der Stern von Kazan“ beschreibt die in Wien geborene Bestseller-Autorin Eva Ibbotson anfangs das behütete Aufwachsen des kleinen Findelkindes in der Hauptstadt des österreichischen Kaiserreichs um 1900. Doch das Mädchen träumt nachts sehnsuchtsvoll von seiner unbekannten Mutter. Aber manche Träume sollten besser nie wahr werden....
Die kleine Annika lebt in einer ungewöhnlichen Familie: Sie hat zwei Mütter – eine ist Köchin, die andere Hausmädchen -, die sich rührend um sie kümmern und ihr das eigene Wissen und Können vermitteln. Sie leben und arbeiten in einem Professorenhaushalt, der aus drei Geschwistern besteht, die in höheren Sphären schweben, voll und ganz in ihrem Beruf aufgehen und keine Zeit haben, sich um die nebensächlich-banalen Angelegenheiten des Alltags zu kümmern, wie etwa Essen kochen und saubermachen!😉 Mit dem kleinen Findelkind, das bei ihnen aufwächst und überall kräftig mit anpackt, teilen diese Akademiker gern ihr geballtes Fachwissen.
Pharaonen und Menschenfresser
In ihren freien Stunden trifft sich Annika mit ihren Freunden in einem geheimen Garten, wo die Kinder ihrer Phantasie freien Lauf lassen und sich als Pharaonen oder Menschenfresser austoben können, je nach Stimmungslage des Tages. Doch das ehemalige Findelkind sehnt sich insgeheim nach seiner unbekannten Mutter.
Umso größer ist Annikas Freude, als dieser Lebenstraum plötzlich in Erfüllung geht: Eine elegante Adlige names Freifrau von Tannenberg erscheint im Hause der Professoren und verlangt ihre geliebte Tochter zurück. Annika ist überwältigt von der herzergreifenden Geschichte, die ihr die Mutter über ihre Geburt erzählt, und freut sich auf ihr zukünftiges Leben auf dem Rittergut ihrer neuen Familie in Preußen. Dennoch bricht ihr der Abschied von ihrer Adoptivfamilie und den Freunden fast das Herz.
Ein eisiger Empfang
Bei der Ankunft auf dem vornehmen Stammsitz ist jedoch alles ganz anders als erwartet: Das riesige Haus ist eiskalt und menschenleer, bis auf eine steinalte Dienstbotin gibt es kein Personal und überall an den Wänden sind leere Stellen, an denen einmal teure Gemälde hingen. Annika ist so voller Glück über ihre wiedergefundene Mutter, dass sie all dieses Elend durch die rosarote Brille sieht, und das ärmliche Anwesen und die mageren Essensportionen für den bewusst spartanischen Lebensstil der Adligen hält.
Sie freundet sich mit dem Zigeunerjungen Zed an, der auf dem Gut lebt und sich um das edle Reitpferd ihres Halbbruders Hermann kümmert. Von Zed erfährt sie schließlich auch die Wahrheit über ihre neue Familie: Der Ehemann ihrer Mutter war ein Spieler, der das Familienvermögen verzockt hat und dann vor seinen Gläubigern ins Ausland geflüchtet ist. Die Familie ist bitterarm und versucht, durch den Verkauf alter Bilder und Möbel ein wenig Geld zum Überleben zu bekommen.
Eine mysteriöse Reise
Doch Annikas Mutter hat einen Geheimplan, der die Familie von allen finanziellen Problemen erlösen soll. Nach einer mysteriösen Reise in die Schweiz ist auf einmal Geld im Überfluss vorhanden, die Mutter überschüttet die Familie und sich selbst plötzlich mit teuren Geschenken – nur ihre heißgeliebte Tochter Annika erhält als Präsent lediglich ein paar schäbige Gummigaloschen, die viel zu klein sind.
Annika wird in ein Mädchenpensionat abgeschoben, in der eine bösartige Schulleiterin Lehrerinnen und Schülerinnen zugleich schikaniert und unterdrückt. Doch Zed recherchiert auf eigene Faust und stößt auf eine merkwürdige Geschichte: Annika soll ein Millionenvermögen in Form von Juwelen geerbt haben, zu denen auch der berühmte „Stern von Kazan“ gehört. Doch davon hat das Mädchen nie etwas erfahren.
Der Stern von Kazan
Der Junge flieht nach Wien, um Annikas Pflegefamilie von seinem schlimmen Verdacht zu erzählen. Bald überschlagen sich die Ereignisse, denn Annika versinkt auf der furchtbaren Schule in einer Depression, während Frau von Tannenberg alle Hebel in Bewegung setzt, um ihr gerade gewonnenes Millionenvermögen auch weiterhin in den ach so edlen Fingern behalten zu können....
Kultbuch mit Wiener Charme
In diesem Kultbuch entfaltet Eva Ibbotson ihr geballtes Erzählrepertoire in einer Geschichte, die eine wilde Mischung aus Abenteuerroman, Detektivgeschichte, Coming-of-Age-Story und einem Romantikthriller speziell für Kinder ist. Die Kaiserzeit in Wien wird durch malerische Schilderungen wieder zum Leben erweckt, bei denen die LeserInnen den Geruch des frisch gebackenen Gugelhupfs beinahe wirklich zu riechen glauben. Ebenso werden durch die Magie von Eva Ibbotsons lebhaften Beschreibungen die Klänge von Walzermusik quasi hörbar und der Zauber der Dressurübungen der Lipizzaner sichtbar.
Originelle Patchwork-Familie
Auf die kleine Heldin dieses Kinderbuches warten große Prüfungen und Gefahren, die sie nur durch ihre Integrität und mit Hilfe ihrer Familie und Freunde bestehen kann. Äußerst originell an diesem Kinderbuch ist die ungewöhnliche Patchwork-Familienformation aus der Wiener Kaiserzeit, die Eva Ibbotson ihrer Protagonistin zur Seite stellt. Die Botschaften der Autorin, die Teile ihrer Kindheit in einem Kinderheim in Wien verbringen musste, sind universell und zeitlos: Die richtige Mutter ist die Frau, die das Kind liebt und sich um es kümmert, und eine echte Familie kann auch aus lauter Nicht-Verwandten bestehen, denn wichtig sind vor allem das Vertrauen und die gegenseitige Unterstützung.
Fazit: Ein Kult-Schöker der Extraklasse, der sich in der Erinnerung festsetzt und zum wiederholten Lesen lockt!😎😎😎
Die Autorin
Die bekannte Bestsellerautorin Eva Ibbotson wurde 1925 in Wien geboren, verbrachte Teile ihrer Kindheit in einem kirchlichen Heim und emigrierte 1933 zu ihrem jüdischen Vater nach Schottland. Die Autorin starb 2010 in Newcastle upon Tyne (GB). Ihre Bücher für Erwachsene und Kinder sind weltweit erfolgreich, ihre Kinderbücher wurden in Großbritannien mehrfach ausgezeichnet.
Eva Ibbotson: Annika und der Stern von Kazan, erschienen 2009 in der dtv Verlagsgesellschaft, empfohlen für Kinder ab 10 Jahren, 448 Seiten, 8,95 Euro (Taschenbuch)