Wenige Monate vor der Bundestagswahl gewährt Annalena Baerbock mit ihrem Buch "Jetzt: Wie wir unser Land erneuern" Einblicke in ihr Privatleben. Das Grundsatzprogramm der Grünen wird dabei mit einem persönlichen Anstrich versehen und biografisch unterlegt. Die vordergründige Frage lautet: Woher kommt die grüne Kanzlerkandidatin?
"Für meine Oma und all die Generationen, die so viel erlitten, erkämpft und geleistet haben und auf deren Schultern wir heute stehen", so lautet die Widmung, mit der Annalena Baerbock ihr kürzlich erschienenes Buch "Jetzt: Wie wir unser Land erneuern" einleitet. Ihre Großmutter ist in der Tat ein biografischer Ankerpunk in dieser Schrift, auf den Baerbock immer wieder zurückkommt. Besagte "Oma Alma" erscheint als prägende und inspirierende Person. Als Spätaussiedlerin kam sie gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Kindern 1958 aus Oberschlesien nach Niedersachsen. Baerbock schreibt über die Kriegserfahrungen und das Arbeitsleben ihrer Großmutter, die die Bürobäume einer Sparkassenfiliale putzte. "Nicht ohne einen gewissen Stolz", wie es an einer Stelle heißt. Denn da sie Weihnachtsgeld bekam und zu Mitarbeiterfesten eingeladen wurde, empfand sie sich als Teil der Sparkasse.
Baerbocks Familiengeschichte ist also eine Gastarbeiterfamiliengeschichte. Jedenfalls mütterlicherseits. In der Bundesrepublik hatte man von vorn anfangen, den sozialen Abstieg verarbeiten und anpacken müssen. Baerbocks Satz "Ich trete an für Erneuerung, für den Status Quo stehen andere", wird vor diesem Hintergrund durchaus konturiert, obgleich man nicht umhin kommt, eine Prise Zynismus in diesem Vergleich zu sehen.
Woher Annalena Baerbock kam
Der biografische Teil des Buches versammelt verschiedene kurze Anekdoten, die uns näher bringen sollen, woher die Politikerin Annalena Baerbock kommt. Da ist beispielsweise der tragische Unfalltot der älteren Schwester der Mutter, die, gerade einmal zwölf Jahre alt, von einer Straßenbahn erfasst wurde. Der Unfall, der sich 20 Jahre vor Baerbocks Geburt ereignete, hat die Familiengeschichte nachhaltig geprägt.
Da ist der Vater, der seinen Töchtern beibrachte, wie man Autoreifen wechselt, damit diese nicht eines Tages am Straßenrand stehend auf männliche Helfer warten müssen. Auf wenigen Seiten beschreibt die Grünenpolitikerin ihre Kindheit in einem Dorf bei Hannover. Eine Großfamilie, ein Garten, Hühner - "ein bisschen Bullerbü auf Norddeutsch", heißt es im Text. Und dann ist da noch die von einem Trümmerbruch im Fuß unterbrochene Trampolinkarriere, ein Erlebnis, wie Baerbock schreibt, welches ihr das "Schwanken zwischen Gewinnen und Verlieren" gelehrt habe.
Das politische Programm
Hinsichtlich der politischen Ziele und Forderungen verrät das Buch hingegen kaum neues. Egal ob es um ökologische, ökonomische oder soziale Forderungen geht; wer die Interviews und Reden Baerbocks verfolgt, das Wahlprogramm der Grünen gelesen hat, wird hier nicht überrascht werden. Forderungen bezüglich Kindergrundsicherung, ökologischer Wohlstand, eine neue Daseinsvorsorge und eine grüne transatlantische Agenda werden noch einmal ausgebreitet. Auch Europa und eine grüne Außenaußenpolitik sind wichtige Punkte, die nicht fehlen dürfen.
Was zu diesen bekannten und viel besprochenen Themen im Buch hinzukommt, ist der stetige Versuch zu beruhigen. Was sich bewährt hat, so Baerbock, wird bleiben. Ein an die konservativen WählerInnen gerichteter Appell. Die sozial-ökologische Transformation bedeute nicht, den Markt infrage zu stellen, so Baerbock. Weiterhin bedeute der Vorschlag, dass sich in der Europäischen Union einzelne Länder zusammenschließen und Geflüchtete aus den Lagern an den EU-Außengrenzen aufzunehmen sollen nicht, dass Grenzen künftig nicht auch rechtsstaatlich kontrolliert werden müssen.
Grün träumen
Interessant ist der Versuch, diese politischen Forderungen und also Baerbocks politisches Engagement aus den zuvor aufgelisteten biografischen Fetzen abzuleiten. Zumindest hinsichtlich sozialpolitischer Fragen entsteht dabei ein doch recht amüsantes Bild. Der Vorzeige-Schicksalsschlag in Baerbocks Leben ist schließlich, wie wir gelesen haben, ein Trümmerbruch im Fuß, der eine Trampolinkarriere verhinderte. Man stelle sich nun die Fassungslosigkeit in den Gesichtern der tatsächlich von Schicksalsschlägen getroffenen Personen und Familien Deutschland vor, die diese Sätze lesen. Da wird auch das Rekurrieren auf die Gastarbeiterfamiliengeschichte nur wenig helfen. Insgesamt lassen Baerbocks biografische Angaben auf ein Aufwachsen schließen, in welchem es ausreichend Kapazitäten gab, um grün zu träumen.
"Jetzt: Wie wir unser Land erneuern" richtet den Blick auf eine Zukunft, in der sich plötzlich alle verstehen. Problematischer ist vielleicht, dass dieser Blick aus einer Gegenwart heraus geworfen wird, in der es scheinbar keine Klassen, keine Unterschicht und keine Provinzen gibt.
Annalena Baerbock: "Jetzt: Wie wir unser Land erneuern", 240 Seiten, Ullstein Verlag