Die historischen Romane der bayrischen Schriftstellerin Siglinde M.Petzl lesen sich wie atemberaubende Zeitreisen. Doch sie sind viel mehr als lediglich spannende Geschichten: Die Autorin erzählt in ihren Romanen die Vergangenheit ihrer eigenen Familie, der Familie Oppel aus Velden, einer Stadt in der Nähe von Nürnberg. Die detaillierten Informationen zu den unterschiedlichen Schicksalen ihrer Ahnen hat Siglinde M. Petzl mühsam und mit viel Einfallsreichtum recherchiert, doch begonnen hat ihr Autorinnenleben mit ein paar vergilbten Briefen auf dem Dachboden. Lesering-Redakteurin Claudia Diana Gerlach führte ein Interview mit der Schriftstellerin.
1. Liebe Siglinde M. Petzl, Du hast drei spannende, unterhaltsame und zudem sehr informative historische Romane über das Leben der Auswanderer geschrieben, die von Deutschland aus mit Sack und Pack nach Amerika aufgebrochen sind. Ein weiteres Buch erzählt von den Erlebnissen einer Holocaust-Überlebenden in Nürnberg. Deine Bücher sind etwas ganz Einmaliges, denn sie sind authentisch. Berichten alle drei Romane von Erlebnissen Deiner Familie? Was war der Anlass für das Erforschen Deiner Familiengeschichte?
Das erste Buch „Zum anderen Ende der Welt“ und „Neue Heimat fremdes Land, Amerika genannt“ (Band 1 und 2) handelt von Johann Oppel, mein Ur-Ur-Großonkel großväterlicherseits, der mit seiner Frau und den beiden kleinen Töchtern im Jahr 1855 die bayerische Heimat verließ, um in der Neuen Welt ein besseres Leben zu finden.
Zu meinem Erstaunen gab es unter meinen Vorfahren eine weitere Auswanderung großmütterlicherseits. Margarethe Lothes, die im Jahr 1888 ihrem Bruder nach Amerika folgte, lieferte den Stoff für meinen 2. Roman „Verheißung hinter den Meeren - Lockruf Amerika“. Sie war meine Ur-Großtante. Erst durch die Heirat meiner Großeltern erfuhr der eine vom anderen, dass jeder in der eigenen Familie Amerika-Auswanderer hatte.
In meinem letzten Buch „Unsichtbar durch die Hölle“ wird u. a. das Schicksal meiner Oppel-Großeltern und deren Kinder (meine Mutter wurde von einem Splitter der Phosphorbombe getroffen) während der amerikanischen Bombardierung im April 1945 erzählt.
Ich habe mich schon immer für die vergangenen Zeiten interessiert, insbesondere für die Vorfahren meiner Mutter, denn der Oppel-Stammbaum reicht bis ins Jahr 1649 zurück. Den Anlass alles genauer zu erforschen, gaben jedoch erst die alten in Vergessenheit geratenen Auswanderer-Briefe, die meine Mutter in einer Blechdose auf dem Speicher fand. Fortan zog mich die Zeitreise in die 2. Hälfte des 19.Jh immer mehr in den Bann. Es war sehr aufregend, in die damalige Zeit einzutauchen und vor allem sich vorzustellen, wie der arbeitsreiche Alltag aussah, welche Sorgen und Ängste die Menschen bewegten.
2.Beim Lesen Deiner Romane hat man das Gefühl, in die Vergangenheit geradezu einzutauchen, so detailliert ist alles geschildert. Diese genauen Beschreibungen setzen sehr viel geduldige Recherche voraus. Wie bist Du an diese unzähligen Informationen sowohl zu Deiner Familie als auch zu den beschriebenen Epochen gekommen?
Schon im Kindesalter habe ich sehr genau hingehört, wenn zu meinen Großeltern Verwandte, Bekannte oder Nachbarn auf einen Besuch vorbei kamen und dabei Geschichten und Ereignisse aus vergangenen Tagen erzählt wurden. Tatsächlich habe ich mir sehr viele damalige Begebenheiten merken können, die ich in meinen Büchern einfließen ließ. So bekam ich auch einen kleinen Einblick, wie der Alltag damals aussah, welche Arbeiten die Frauen in der Landwirtschaft verrichten mussten und was ihnen abverlangt wurde. Dieses angeeignete, hilfreiche Wissen war für mich sehr wertvoll und zog sich durch all meine Buchgeschichten.
3. Was hat Dich an diesen Auswanderern so fasziniert, dass Du eine Geschichte aus Deinen Recherchen gemacht hast?
Es war der bewundernswerte Mut meiner Ahnen, die geliebte Heimat zu verlassen, um in eine fremde Welt aufzubrechen, von der sie sich ein besseres Leben erhofften. Mitte des 19. Jahrhunderts war es tatsächlich eine ‚Reise zum anderen Ende der Welt‘. Wie aus einem Brief zu erfahren war, ist den „Neu-Amerikanern“ nichts zugeflogen, auch dort hieß es, dass nur mit harter Arbeit und Verstand etwas im Leben zu erreichen ist. Dieses umfangreiche, emotionale Thema faszinierte mich immer mehr.
4. Welches Ziel hattest Du, als Du mit dem Schreiben des ersten Buches begonnen hast?
Ursprünglich wollte ich die Oppel-Auswanderer-Geschichte einfach nur für meine Mutter (über 90 Jahre) aufschreiben, denn in den gefundenen Briefen standen so viele Informationen, wie die genaue Beschreibung der Zugfahrt von Nürnberg nach Hamburg, die Schiffsreise, zwei überstandene Stürme, wo in New York übernachtet wurde, wie die Menschen im fernen Amerika gekleidet sind, was es zu essen gibt, die einzelnen Reisestationen, der Kauf der Farm, der Anbau, die Gerätschaften, ja sogar die Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die Wetterbedingungen uvm. Dass die Geschichte den Umfang eines Buches erreichen und sogar den Weg auf den Buchmarkt finden würde, daran habe ich zur damaligen Zeit nicht gedacht. Erst die Idee meines Mannes es einem Verlag anzubieten, führte zur Veröffentlichung. Die Auswanderergeschichte hatte einen Umfang von über 800 Seiten, weshalb wir uns entschlossen, das Buch in 2 Bände aufzuteilen. In Band 1 wird das Alltagsleben in Velden bis hin zur Ozeanüberquerung beschrieben. Teil 2 beginnt mit der Ankunft in der ‚Neuen Welt‘.
5. Gibt es Nachfahren der Familie Oppel, die nach Amerika ausgewandert ist, und konntest Du mit ihnen Kontakt aufnehmen?
Ja, die gibt es! Johann und Barbara Oppel bekamen 6 Jahre nach der Auswanderung im Jahr 1861 einen Sohn namens Frederick. Aber nicht er, sondern seine Schwester Elisabeth, die mit nur 8 Wochen zur Einwanderin wurde, übernahm nach den Eltern das Briefschreiben. Dieser Kontakt nach Velden wurde von Elisabeths Nachfahren über Generationen beibehalten. Der letzte aus dem Jahr 1949 stammende Brief, wurde von Johanns Urenkelin Rutha nach Germany an meinen Oppel-Opa geschrieben. Darin erwähnte sie ihre beiden Jungen James und Jean-Paul sowie ihre Tochter Carol. Das war ein Anhaltspunkt, den ich aufgriff, wobei ich mich auf die Jungen konzentrierte, die nach einer etwaigen Heirat den Familiennamen beibehalten würden. Ich überschlug das Alter, kam zu dem Schluss, dass die ‚Kinder‘ ungefähr 80 Jahre alt sein müßten und so begann ich meine Suche. Ich durchforstete die Listen der Volkszählungen, was sehr viel Zeit in Anspruch nahm, danach nahm ich mir die Telefonbücher vor. Mit viel Glück und großer Ausdauer gelang es mir nach intensiven Recherchen ‚vermeintliche‘ Verwandte zu finden, wobei ich mich voll und ganz auf mein Bauchgefühl verließ. Schließlich schrieb ich einige Briefe nach Palmyra, Indiana, wo die Oppels sesshaft wurden. Ob überhaupt eine Antwort kommen würde, das war die große Frage. Drei Wochen nach dem ersten Anschreiben hatte das gespannte Warten ein Ende. Ein Brief von James, Johanns Ur-Ur-Enkel, lag in meinem Briefkasten.
Liebe Siglinde,
wie klein die Welt doch ist! Der Junge, der in dem Brief von 1949 erwähnt wurde, bin ich, meinem Bruder und meiner Schwester geht es auch noch gut...
Es war ein umwerfendes Gefühl die Nachfahren meines Ur-Ur-Großonkels gefunden zu haben. Ich erinnere mich noch genau daran, wie es sich anfühlte, das Schreiben in meinen Händen zu halten, ich war überglücklich, es geschafft zu haben! Auch von Fredericks Nachfahren kamen in den nächsten Tagen Briefe nach Velden, wo ihr Vorfahre im März 1824 in der Eichgasse geboren wurde.
(Info: im Prolog habe ich mich selbst Sarah genannt).
6. Wie reagierten die Familienangehörigen aus Amerika auf Deine Briefe? Waren sie erstaunt oder begeistert, etwas von ihrer großen Familie von der anderen Seite des Atlantik zu erfahren?
Für die Nachkommen der Auswanderer war es sensationell, nach fast 160 Jahren, so lange lag Johanns Auswanderung zurück, aus Bayern eine Nachricht zu bekommen. Sie wussten zwar von ihren deutschen Wurzeln, die geografischen Kenntnisse waren jedoch im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Von einem amerikanischen ‚Cousin‘ erfuhr ich später, dass alle aus dem Häuschen waren.
7. Gab es schon Besuche der amerikanischen Verwandtschaft oder hat Eure Familie inzwischen eine Reise in die USA unternommen?
Die Krönung war das Treffen mit Johanns Ur-Ur-Enkel James (von ihm kam die erste Briefantwort) und seinem Bruder Jean-Paul. Die Zusammenkunft gestaltete sich einfacher als gedacht. Der Zufall wollte es, dass die Brüder zur gleichen Zeit in Florida weilten wie wir, da die alten Herrschaften sich als ‚Snowbirds’ über die Wintermonate im warmen Süden aufhielten. Wir wurden aufs Herzlichste empfangen. Bei den Erzählungen erlebte ich einen berührenden Moment: in Jean-Pauls Schuppen in Indiana steht heute noch Johanns selbstgefertigte Schiffskiste mit den Eisenbeschlägen, in der im Sept. 1855 die Habseligkeiten für die Auswanderung verstaut wurden. Außerdem überreichte er mir alte Briefe, die vor so langer Zeit von Velden nach Indiana geschickt wurden, weil keiner die Sütterlinschrift lesen kann. In den 40ern wurden die Briefe in ein 100 Meilen entferntes Dorf weitergeschickt, um sie ins Englische übersetzen zu lassen, da der Pfarrer vor Ort, der das sonst übernahm, weggezogen war. Rutha, die Mutter der Brüder schickte nach dem Krieg Pakete zu ihren deutschen Verwandten, um das Leid der Veldener etwas lindern zu können.
8. In Deinen Büchern werden auch sehr dramatische Ereignisse und herzergreifende Episoden geschildert. Was hat Dich bei Deinen Nachforschungen besonders bewegt
Die schlimmen Schicksalsschläge! Bei der Oppel-Geschichte in meinem 1. Buch war es Margarethas Tod, die mit ihren erst 1 1/2 Jahren während der Atlantik-Überfahrt starb. Es muss für Johann und Barbara kaum zu ertragen gewesen sein, ein Kind auf so tragische Weise zu verlieren. So haben sie sich den Neuanfang in den Vereinigten Staaten sicher nicht vorgestellt. Ein kleiner Trost ist, dass meine Mutter Margaretha Oppel (verh. Eckstein) in Gedenken an das kleine Mädchen ihren Vornamen bekam. Sie gab ihn an mich als Zweitnamen weiter, worauf ich sehr stolz bin.
Im 2. Buch waren es nicht die Abenteuer der Auswanderin, obwohl es auch für sie bei den vielen anfänglichen Schwierigkeiten und Niederschlägen kein Zuckerschlecken gewesen war, in Ohio Fuß zu fassen. Vielmehr ist es das Leid ihrer Schwester, meiner Urgroßmutter in Velden, die mit 44 Jahren erblindete. Auch sie wird im Buch erwähnt, denn die Auswanderin kam zu Besuch nach Velden.
Sehr zu Herzen gegangen ist mir allerdings die Geschichte meines 3. Romans über den 2. Weltkrieg. Das unsagbare Leid des jüdischen Volkes ist nicht mit Worten zu erfassen. Meine umfangreichen Recherchen hierzu bescherten mir viele Albträume und tun es immer noch. Ich bin froh, mit meinem Buch einen kleinen Teil dazu beitragen zu können, dass diese unheilvolle Zeit des verbrecherischen Nazi-Regimes nicht in Vergessenheit gerät.
9. Was möchtest Du Deinen Leser*innen von Dir erzählen? Und bist Du selbst Teil der Familien-Chronik?
Ich bin sehr zielstrebig - was ich mir vornehme, wird durchgezogen, egal auf welche Unwägbarkeiten ich stoße, meine Geduld - oder Besessenheit - ist schier grenzenlos. Die Eigenschaft, nicht aufzugeben, hat sich bei meinen monatelangen Recherchen gelohnt, denn mein Traum, die Cousins und Cousinen in Amerika zu finden, ging in Erfüllung. Natürlich gehört Durchhaltevermögen und vor allem große Ausdauer genauso dazu wie der Glaube es schaffen zu können.
Die Geschichte in meinem letzten Buch reicht bis ins Jahr 1953, so trete ich in der Geschichte nicht in Erscheinung, weil ich erst 5 Jahre später das Licht der Welt erblickte. Aber im Prolog des ersten (als Sarah) und zweiten Buches komme ich vor. Im Holocaust-Roman habe ich sehr deutlich meine Meinung über diese schreckliche Zeit geäußert.
10. Um diese Geschichten schreiben zu können, benötigst Du einen ständigen Perspektivwechsel hin zu der Person, deren Geschichte geschildert wird. Dazu braucht es sicher unendlich viel Geduld, Ruhe und Konzentration. Wo arbeitest Du am liebsten, und folgt Dein Schreiben einem strengen Plan oder ist es eher intuitiv?
Am liebsten arbeite ich am Schreibtisch im großen Wohnzimmer vor dem Fenster. Heute schmunzle ich drüber, welchen Drang ich hatte, alles was in meinem Kopf herumschwirrte, zu Papier zu bringen. Ich kann mich noch sehr gut an das wunderbare Gefühl erinnern, früh morgens aufzuwachen und mein erster Gedanke, der mich überaus glücklich machte, war: jetzt kann ich wieder weiterschreiben. Dazu brauchte ich tatsächlich absolute Ruhe. Da mein Mann ein leidenschaftlicher Fischer ist, stellte das für ihn kein Problem dar, wenn ich ihn täglich zum Angeln schickte. Wenn er mich verließ und nach Stunden heimkehrte, saß ich immer noch genauso am PC, wie er mich verlassen hatte. Wäre er nicht gewesen, wäre ich wahrscheinlich verhungert, denn er servierte mir während meiner Schreibphasen, die sich über Monate hinzogen, das Frühstück, das Mittag- und Abendessen. So konnte ich von früh bis spät tippen, tippen, tippen, ohne den Weitergang der Geschichte überlegen zu müssen, denn das ergab sich wie von selbst. Das Schreiben sprudelte nur so aus mir heraus, so dass alles rein intuitiv geschah, ohne irgend einen Plan vor Augen zu haben.
11. Welche Wirkungen haben Deine Studien auf Deine Familie? Bekamen z.B. Deine drei Kinder Inspirationen für ihre eigenen Lebensentwürfe?
Wenn es ein „Auswanderer-Gen“ gibt, dann ist meine Familie davon betroffen. In den 80er Jahren waren wir zweimal in Kanada und haben mit einer Auswanderung geliebäugelt. Letztendlich überwogen jedoch familiäre Bindungen und die Liebe zu unserer Heimat schwerer, als Deutschland den Rücken zu kehren. Diesen Traum verwirklichten und erfüllten sich unsere Töchter Linda und Diana, die wir in ihrem Vorhaben bestärkten. Sie leben mit ihren Familien in Florida. Bei unseren monatelangen Besuchen kann ich dann auch den „American Dream“ leben. Unser Sohn wohnt mit seiner Familie seit einigen Jahren in Dubai.
12. Ich kann mir vorstellen, dass durch Recherchen immer neue Ergebnisse ans Licht kommen. Ist bereits ein weiterer Band der Familiengeschichte in Planung?
Ein neues Buch? Bekanntlich sollte man ja niemals NIE sagen. Würden zum Beispiel eines Tages weitere Briefe auftauchen, wäre ich selbstverständlich sofort bereit, die Erlebnisse und die damaligen Gegebenheiten einer längst vergangenen Zeit aufzuschreiben, denn es ist in meinen Augen wertvoll - und ich liebe es - wahre Begebenheiten den Lesern zu vermitteln.
Da fällt mir ein, in meinem Besitz befindet sich noch das Tagebuch des Großvaters als Soldat im 1. Weltkrieg… Aber nein, ein weiteres Buch ist nicht geplant.
Ich bedanke mich recht herzlich für das Interview. Es hat mir großen Spaß gemacht!
Liebe Siglinde M. Petzl, wir bedanken uns ganz herzlich für dieses Interview!