Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim erreicht mit ihrem YouTube-Kanal "maiLab" mehrere Millionen Menschen. In ihren Beiträgen bespricht sie eine breite Auswahl aktueller Themen, die sie in unaufgeregter Weise wissenschaftlich prüft. Längst ist die "Journalistin des Jahres 2020" auch außerhalb ihres Kanals als Gesprächspartnerin in diversen Fernseh- und Internetformaten zu sehen. Vor wenigen Wochen erst, erschien ihr Buch "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit". Dieses stürmte nicht nur prompt die SPIEGEL Bestsellerliste, sondern ist nun auch als eines von acht Büchern für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert.
Vielleicht ist einer der wenigen positiven Aspekte der Coronapandemie, dass eine relativ breite Öffentlichkeit einen sekündlichen Einblick darin gewann, wie wissenschaftliches Arbeiten funktioniert. Dass Wissenschaft keineswegs einer Einbahnstraße, sondern, wenn überhaupt, einem äußerst lebendigen Kreisverkehrt gleicht. Meinungen, Erhebungen, Studien; Verifizierungen, Falsifizierungen. Wer sich, wie auch immer geartet, in das Gebiet einer wissenschaftlichen Disziplin begibt, findet sich in einem komplexen Dschungel wieder, der niemals einwandfrei funktioniert, sondern von Verwerfungen, Ersatzhandlungen und Neuausformulierungen lebt. Die promovierte Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat sich mit ihrem YouTube-Kanal "maiLab" die Aufgabe gemacht, zumindest ein wenig Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Ruhig, anschaulich und gut verständlich spricht sie dort über populäre Themen, die sie mit wissenschaftlichem Blick prüft. 1,3 Millionen AbonnentInnen schätzen diese unaufgeregte Art, die nun auch in Nguyen-Kim´s aktuellem Bestseller "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit" anzutreffen ist.
Videospiele, Gewalt und Klimakrise
Auch in dem knapp 370 Seiten starken Buch ist die Themenauswahl ebenso vielfältig wie ansprechend. Dabei geht es beispielsweise um die Legalisierung von Drogen, um Videospiele, um Gewalt und den Gender-Pay-Gap. Über die Gegenüberstellung von Big Pharma und alternativer Medizin wird ebenso gesprochen, wie über Homöopathie, Tierversuche und den Klimawandel. Einige dieser Themen wurden bereits auf Nguyen-Kim´s YouTube-Kanal besprochen. Und doch ist dieses Buch mehr als nur eine Transkription. Wie die Autorin in einem Gespräch mit der Deutschen-Presse-Agentur betont, stehe ein Kapitel in keinem Verhältnis zu einem Video - "allein im Recherche-Aufwand". Die doch längere Beschäftigung mit dem Buch führte unter anderem dazu, dass die Autorin über den Zeitraum des Schreibens hinweg ihre Meinung hie und da doch noch einmal änderte.
Als Beispiel nennt sie hier das erste Kapitel ihres Buches, welches sich mit der Drogenpolitik beschäftigt. "Ich hatte ein ganz anderes Drogenkapitel im Kopf und dachte, warum hören wir nicht auf die Wissenschaft". Während der Beschäftigung mit der Methodenkritik habe sie dann bemerkt: "Es ist gar nicht so einfach, wie man sich das als Wissenschaftler wünschen würde".
"Besser streiten"
Ihr Weg zur Wissenschaftskommunikation ebnete sich im Jahr 2017. Nguyen-Kim lehnte ein "besonders attraktives Jobangebot als Laborleiterin bei BASF" ab. Begriffe wie "alternative facts" hätten sie zu dieser Zeit besonders interessiert. Außerdem war da das ungute Gefühl, "dass wir zunehmend die Fähigkeit verlieren, uns auf Tatsachen zu einigen." Natürlich sei die Debatte nach wie vor notwendig und unerlässlich ("my love language"), darüber hinaus sei es aber ebenso notwendig, "auf einem gemeinsamen Boden der Tatsachen" zu stehen.
Sowohl in ihren Beiträgen als auch in ihrem Buch ist es Nguyen-Kim´s Anliegen, auf diesen Boden zu verweisen bzw. ihn zu festigen. "Wissenschaftlichkeit heißt nicht weniger zu streiten, sondern besser", heißt es dann auch im letzten, im neunten Kapitel. Aufklärung statt Verklärung; das haben wir im Zeitalter der sogenannten Sozialen Medien vielleicht nötiger, als jemals zuvor. Gerade der "gemeinsame Boden der Tatsachen" ist es ja, der durch die gezielte Verbreitung von Fake News erschüttert werden soll. Menschen sollen systematisch zu Fall gebracht werden, damit sie von den griffigen und unterkomplexen Theorien jener "Weltdeuter" aufgefangen werden können, die ihre neuen Böden mit Mauern begrenzen wollen. Auf allen Ebenen ihrer Arbeit stemmt sich Mai Thi Nguyen-Kim gegen diese Allmachtsphantasien, und geht als gutes Beispiel (nicht nur für jüngere Menschen) voran. "Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir vielleicht doch wieder einen Kurs zu einer Versachlichung hin bekommen."
Mai Thi Nguyen-Kim: "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit - Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft", Droemer Verlag, 2021, 368 Seiten, 20,00 Euro