Es ist eine Geschichte über das verschneite Island. Es ist zugleich eine Geschichte über zwei junge Instagrammerinnen, die sich bei einem Interview begegnen. Und es ist eine Geschichte über einen eiskalten Mord, der in das dunkle Milieu einiger skrupelloser Werbetreibender und Politiker führt, die Instagram für ihre Zwecke ausnutzen wollen. Dementsprechend spannend geht es in dem Jugendroman „Das dunkle Flüstern der Schneeflocken“ von Sif Sigmarsdóttir zu.
Teenager Hannah reist nach dem Tod ihrer Mutter von London nach Island, wo sie bei ihrem Vater und dessen neuer Familie leben soll. Hannah empfindet diese Flugreise als Fahrt in die Verbannung. Doch nachdem sie wegen eines kritischen Berichts in ihrer Schülerzeitung der Schule verwiesen wurde, bietet das Praktikum bei einer isländischen Tageszeitung, das ihr Vater ihr organisiert hat, eine neue Chance.
Interview mit einer Influencerin
Wenig begeistert ist sie von ihrem erster Auftrag als Journalistin: ein Interview mit einer bekannten Influencerin, die auf Instagram über eine Million Follower hat. Hannah, die ebenfalls mit ihrem kleinen Account auf diesem sozialen Netzwerk unterwegs ist und sich über jeden einzelnen Like freut, ist sofort voller Vorurteile und Antipathie, denn sie rechnet mit einem hohlköpfigen Wesen, das sich ständig nur um sich selber dreht.
Doch bei dem Treffen wird sie sofort in den Bann der geheimnisvollen, schönen Imogen gezogen, die mit ihren 19 Jahren nicht nur ihrem Job als Influencerin perfekt meistert, sondern auch noch in einer aufstrebenden Marketing-Agentur arbeitet.
Moderne Mythen
Imogen spricht davon, dass ihr Erfolg auf Instagram zufällig ist und dass sie ihre Beiträge als Parodie sieht. Für Imogen ist Instagram das beste Instrument der Moderne zur traditionell etablierten Mythenbildung. Denn auf dieser sozialen Plattform könne sich jeder Einzelne neu kreieren. Hannah ist gegen ihren Willen fasziniert von ihrer Interviewpartnerin und sorgt mit intuitiven Fragen für eine unerwartete Wende des Gesprächs, das daraufhin von Imogen abrupt beendet wird.
Doch ein Mordfall sorgt dafür, dass die beiden jungen Frauen in Verbindung bleiben: Kurz nach Hannahs Ankunft im eisigen Island wird der renommierte Wissenschaftler Mördur Pórdarson ermordet aufgefunden. Imogen wird während eines öffentlichen Vortrages von der Polizei verhaftet, denn sie kannte den Dozenten und steht unter Mordverdacht. Im Getümmel des allgemeinen Aufruhrs steckt sie Hannah heimlich ihr Handy zu. Und die Schülerin, die über ein gutes journalistisches Gespür und eine immense Neugier verfügt, versucht, die versteckte Botschaft im Handy aufzuspüren.
Geheimnisse hinter den Fassaden
Denn sowohl Hannah als auch Imogen, die beide auf Instagram für perfekte Fassaden sorgen, haben ihre Geheimnisse. Der englische Romantitel „The Sharp Edge of a snowflake“ beschreibt treffend die zugrundeliegende Story, denn „Snowflake“ bedeutet nicht nur „Schneeflocke“, sondern ist auch die etwas abwertende Bezeichnung für übermäßig empfindliche Personen – wie es in der deutschen Übersetzung erklärt wird. Hannah hat sich seit ihrem zwölften Lebensjahr allein um ihre alkoholkranke Mutter gekümmert, die vor kurzem verstorben ist. Sie hatte daher nie das Gefühl, normal zu sein und sieht sich von einem Fluch verfolgt.
Und das Leben der schönen Imogen wurde durch einen brutalen sexuellen Übergriff aus der Bahn geworfen. Die junge Frau hat dieses Trauma nie verarbeitet und versuchte seither mit eisernem Willen, weiter ihrem Image gerecht zu werden. Doch die Gedanken an dieses „Monster“, wie sie den Täter schaudernd nennt, beeinflussen ihr ganzes Leben: Imogen musste ihr Studium aufgeben und brach den Kontakt zu ihrer Familie ab. Und der damalige Täter ist niemand anders als das Mordopfer Mördur Pórdarson.
Dubiose Machenschaften
Hannah stößt bei ihren heimlichen Recherchen zu diesem Mordfall auf dubiose Werbefirmen, die versuchen, die persönlichen Daten aller Instagram-Nutzer*innen für ihre Kampagnen auszunutzen und gezieltes Marketing zu betreiben – für teilweise höchst suspekte Produkte. Gemeinsam mit ihrem Freund Kjarri, der ebenfalls bei der Zeitung arbeitet, wirft Hannah auch einen Blick hinter die Lebens-Kulisse des gar nicht so ehrenwerten Wissenschaftlers. Mördur Pórdarson scheint in allerlei zwielichtige Geschäfte verstrickt gewesen zu sein. Ein Mann, der sich im Leben viele Feinde gemacht hat... Unversehens geraten die beiden jungen Journalisten selber ins Visier verbrecherischer Gestalten und müssen um ihre Freiheit kämpfen....
Packender Nordic-Noir-Thriller
Sif Sigmarsdottir ist mit diesem nordischen Teenie-Thriller ein spannender, vielschichtiger und tiefgründiger Roman gelungen, der durch seine authentisch dargestellten, klar gezeichneten Romanfiguren überzeugt.
Sehr gelungen (und zielgruppenoptimiert!) ist der Aufbau dieses Thrillers, bei dem die Erlebnisse der beiden Protagonistinnen Hannah und Imogen abwechselnd in kurzen, zeitversetzten Episoden erzählt werden. Jedes Kapitel beginnt mit einem Instagram-Post der jeweiligen Akteurin - inklusive der Angaben über die verwendeten Foto-Filter und die Reaktionen im Netz.
Die scharfe Kante des Eiskristalls
Der Roman zeigt die Entwicklungs-Prozesse der Hauptfiguren, denn beide „Snowflakes“ besinnen sich zunehmend ihrer scharfen Kanten – der „sharp edges“ der federleichten Eiskristalle: Imogen will den sexuellen Übergriff medienwirksam offenlegen und Hannah lernt, ihr journalistisches Geschick zunehmend professionell zu nutzen und dadurch selbstbestimmend in ihr Leben einzugreifen.
Passend zu diesem Roman ist das offene, geheimnisvolle Ende der Geschichte, das die arme Leserschar hoffen lässt, dass die Autorin längst an einem zweiten Teil arbeitet! Denn dieser Island-Thriller erwischt seine Leser eiskalt und behält sie auch nach der letzten Seite in seinem Sog!
Die Autorin
Die gebürtige Isländerin Sif Sigmarsdóttir ist Autorin und Journalistin, die seit zehn Jahren Bücher für Kinder und Jugendliche schreibt, die auf Island allesamt Bestseller sind. Der vorgestellte Roman ist das erste direkt auf Englisch geschriebene Werk der Schriftstellerin.
Sif Sigmarsdóttir: Das dunkle Flüstern der Schneeflocken, erschienen Ende 2020 im Loewe-Verlag, empfohlen für Jugendliche ab 14 Jahren, 432 Seiten, 14, 95 Euro (Taschenbuch)