Je schneller die Welt zu werden scheint, desto wichtiger wird es, über die Vorzüge der Langsamkeit zu sprechen. Dass Behäbigkeit kein Nachteil sein muss, hatte Sten Nadolny eindrucksvoll mit seinem 1983 erschienenen Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" gezeigt. Das Buch avancierte schnell zu einem Bestseller, wurde in über 20 Sprachen übersetzt und über 1,8 Millionen Mal verkauft. Nie erschien es so radikal wie heute.
Große Entdecker, egal ob nun Künstler, Historiker oder Reisende, müssen die Kraft aufbringen können, der auf sie einstürzenden Außenwelt mit Gelassenheit zu begegnen. So schrieb Max Frisch einmal über Berthold Brecht, das dieser nur mit einer solch ungeheuren Unbedingtheit denken kann, da er die Fähigkeit besitzt, an vieles nicht zu denken und Unwichtiges auszuklammern. Heute sind Pushnachrichten und Eilmeldungen zum Instrumentarium einer Erregungskultur geworden. Tagtäglich überkommen uns Schreckensmeldungen, die, wie in der Corona-Pandemie umso deutlicher geworden ist, mit analytischen Messungen und messerscharfen Statistiken auffahren und dafür sorgen, dass wir schließlich selbst damit beginnen, uns unermüdlich zu bemessen, einzuteilen und zu zergliedern. So eilen wir von Termin zu Termin, größer, schneller, besser; kaum mehr im Stande, während der Bahn- oder Zugfahrt einen einfachen Blick aus dem Fenster zu werfen. Selbst die in Bewegung versetzte Welt scheint uns noch zu langsam. Wer sich jedoch dieser permanenten Hetzjagd entzieht, gilt schnell als antiquierter Sonderling. Er oder sie erscheint, wortwörtlich, zurückgeblieben; ebenso zurückgeblieben, wie es John Franklin, der Protagonist aus Sten Nadolnys 1983 erschienenen Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit", zu sein schien.
In Anlehnung an Albert Camus sollte man gerade heute noch einmal nachdrücklich betonen: Wir müssen uns John Franklin als einen glücklichen Menschen vorstellen. Erinnern wir uns noch einmal an diesen behäbigen jungen Mann, der von seinen Mitschülern als schwachsinnig bezeichnet und immer wieder verspottet wird, etwa dann, wenn er es aufgrund seiner Langsamkeit einfach nicht schafft, einen auf ihn zugespielten Ball zu fangen, oder auszuweichen. Auch als der junge Franklin seinen Wunsch äußert, zur See zu fahren, wird er verspottet. Sein großes Idol ist Matthew Flinders, der Verlobte seiner Tante Ann Chapell, der verschiedene britische Erkundungsreisen nach Australien leitet. Ja, Franklin will raus, will die Welt sehen, will erkunden und entdecken. Er repräsentiert den Typus Mensch, der an Wirkung interessiert ist, wo beinahe alle um ihn herum von flackernden Effekten chloroformiert werden.
Langsam und gründlich
Einer der wenigen, die erkennen, welches Potential Franklins Behäbigkeit birgt, ist Dr. Orme. Dieser redet auf die Eltern ein und sorgt schließlich dafür, dass der Junge seine erste Schiffsreise nach Lissabon antreten, und, nach seiner Rückkehr, bei der Kriegsmarine anheuern kann. Später folgen Forschungsreise mit Flinders, der sein Versprechen, Franklin einmal mitzunehmen, einlöst. Doch auch auf den Schiffsreisen wird der nun bereits jugendliche Franklin immer wieder aufgrund seiner Langsamkeit verspottet; und doch wird schnell klar, dass eben diese Langsamkeit ein genaues Studieren und Vorausplanen ermöglicht. Bei einem englischen Angriff auf New Orleans wird er so schwer am Kopf verletzt, dass es wie ein Wunder erscheint, dass er den Angriff überlebt. Die Narbe, die Franklin davonträgt, bringt ihn nicht nur großen Respekt ein, sondern gilt fortan auch als Erklärung für seine Langsamkeit.
John Franklin wird Kapitän, Buchautor und Ehemann. Und doch schrieb Nadolny hier nicht die eindimensionale Aufstiegsgeschichte eines Außenseiters. Ständig greift die von Geschwindigkeit besessene, rigorose Außenwelt in das Leben seines Protagonisten ein, wenn auch nicht mittels Pushnachrichten, so doch in Form gesetzter Standards. Es ist eben die Art und Weise, wie ein dem aktuellen Zeitlauf widersprechendes Leben auf Regeln und Gebote reagiert, die seine Zeit verkündet und verehrt. John Franklin entspricht nicht dem Zeitgeist; dies aber, ist nicht das Resultat einer gesetzten Entscheidung. Sieht man von der historischen Komponente (der menschliche Verschleiß, der mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert einherging) ab, ist der für uns gegenwärtig wichtigste Punk in diesem Roman wohl der, dass es nicht nur selbstgewähltes Interesse, sondern vor allem aufrichtige Begeisterung bedarf, um sich dem Lauf der Dinge zu entziehen. Das würde bedeuten, dass es eben nicht das Smartphone ist, welches uns zu Gehetzten macht, sondern der Umstand, dass es immer schwieriger zu werden scheint, nachhaltige Begeisterung, Rührung oder aufrichtiges Mitfühlens aufzubringen. Glücksmomente, so scheint es, kommen auf, um von nächsten ersetzt zu werden. Zu lernen wäre also, die richtigen Momente in die Länge zu ziehen, auszudehnen. Zu lernen wäre, mit aller Langsamkeit in die richtige Richtung zu blicken.
Sten Nadolny, "Die Entdeckung der Langsamkeit"; Piper Verlag, 1987, 384 Seiten, 12 Euro