Ich habe Höhenangst, ich habe Angst in zu engen Räumen, ich habe Angst in dunklen Fahrstühlen, in großen Menschenansammlungen, in langen Tunneln – besonders wenn man dabei in einem Stau steht. Ich habe Angst, wenn ich in dicker Kleidung, und damit meine ich einen viel zu langen Schal, den ich mir viermal um den Hals gelegt habe, Handschuhe aus Polyester, wadenhohe Boots mit Innenfutter sowie eine kratzige Wollmütze, über die ich noch die Kapuze meines olivgrünen Parkas gestülpt habe, durch eine Drehtür eines Kaufhauses trete und mir die heiße Föhnluft entgegenströmt.
Ich habe dann das Gefühl, dass ich nicht atmen kann, ich schwitze und bekomme Panik. Mir wird noch heißer und ich schnappe nach Luft – ein Kreislauf, ein ewiger Kreislauf der Angst. Ich könnte niemals Astronaut sein und in einer kleinen Kapsel zum Mond fliegen. Ich könnte niemals in einem Raumanzug schwerelos durch den Weltraum schweben, wenn zum Beispiel eine Reparatur an der Außenhülle vorgenommen werden müsste. Denn dann würden sie alle zusammentreffen: die Höhenangst, die Angst vor zu engen Räumen, die Angst vor zu dicker Kleidung, die Angst vor dem Verlust von Sauerstoff. Ich meine, höher geht es ja wohl kaum, dick eingepackter auch nicht und meine Fähigkeit zu atmen hinge einzig und allein von einer Sauerstoffflasche ab. Im Kaufhaus kann ich mir wenigstens die Klamotten vom Leib reißen und hinausrennen. Aber im Weltall bin ich den Bedingungen ausgeliefert. Lediglich die Menschenansammlungen, die würde ich da oben wohl nicht finden. Wie verlockend.
Und dennoch, oder vielleicht gerade wegen dieser Universumsangst, schaue ich jeden Astronautenfilm, jede Serie, jede Dokumentation über das Weltall. In meinem Zimmer hängen Poster von Juri Gagarin, Jack Glenn, Alexej Leonow, Harrison Smitt und Sergej Krikaljow. Mich fasziniert der Gedanke, dass Astronauten sich den extremen Bedingungen hingeben, sie ihre Familien zurücklassen und freiwillig auf Pizza verzichten! Ich meine, Pizza ist doch wohl mit Abstand das beste Gericht auf diesem Planeten! Was es wohl auf den anderen Planeten zu essen gibt?
Solange ich mich erinnern kann, träume ich von den Sternen. Auch an jenem Tag, an dem zum ersten Mal etwas wirklich Ungewöhnliches in meinem Leben passiert ist: »Sie werden Astronaut, herzlichen Glückwunsch«, sagte der Mann, der vor unserer Wohnungstür stand. Er trug eine indigoblaue Uniform mit eckigen Schulterpolstern. Auf der Höhe seiner linken Brust steckte ein goldenes Abzeichen in Form einer Pfauenfeder und unter seinem rechten Arm klemmte eine schwarze Mappe, auf der ebenfalls so eine Feder abgebildet war. »Können Sie das bitte noch einmal wiederholen?«, bat ich und starrte auf das Abzeichen. Augenblicklich kam mir der Traum in den Sinn, der mich dreimal hintereinander im Schlaf aufgesucht hatte: Ich schwebe im Weltraum, um mich herum ist nichts außer tiefschwarze Dunkelheit. Ich trage keinen Astronautenanzug und frage mich: Wie kann ich atmen? Bin ich tot? Panisch schnappe ich nach Luft, doch Atmen ist zum Glück kein Problem. Ich schaue an meinem Körper hinab, der hell leuchtet und im starken Kontrast zu der Schwärze um mich herum steht. Ich sehe mich um, dabei drehe ich mich langsam um die eigene Achse. Es ist weit und breit keine Lichtquelle zu sehen. Ich kann also eigentlich gar nicht leuchten, denke ich.
Auf einmal fliegt ein Elefant an mir vorbei, ein echter Elefant! Dann eine Giraffe, ein Nashorn und eine grüne Mamba. Ich erkenne sie aus Kikis Bildband von Afrika wieder. Sie liebt dieses Buch und blättert immer wieder darin herum, auch wenn sie es nie zugeben würde. Es erinnert sie an unsere Kindheit, als wir gemeinsam mit unseren Eltern in Afrika waren, bevor sie gestorben sind. Kiki war damals vier und ich fast sechs Jahre alt.
Die Tiere schauen mich an, als wollten sie mit mir sprechen: Wie kommen wir hierher? Ich möchte ihnen antworten, doch mein Mund lässt sich nicht öffnen. Er ist wie zugeklebt, als hätte ihn jemand betäubt oder zu Eis erstarren lassen. Die afrikanischen Tiere schweben weiter, ohne dass ich mit ihnen sprechen kann. Wohin sie fliegen, das weiß ich nicht. Und während sie immer kleiner und kleiner werden, erscheint ein neuer heller Punkt im schwarzen Nichts. Gebannt starre ich ihn an. Er bewegt sich langsam auf mich zu. Schließlich kann ich erkennen, was es ist: eine golden leuchtende Pfauenfeder.
Dieser Traum kam mir in den Sinn, als der adrett gekleidete Mann mit den Zwirbeln im Schnauzbart vor unserer Haustüre stand. Ich dachte an das schwarze Nichts, in dem ich drei Mal im Schlaf schwerelos gewesen war, ich dachte an die afrikanischen Tiere und besonders dachte ich an die goldene Pfauenfeder. Ich starre immer noch darauf, als der Mann jene Worte wiederholte, die mein Leben verändern sollten: »Sie werden Astronaut und ich bin hier, um Sie abzuholen.«