In einer Welt, die immer mehr Dienstleistungen per Knopfdruck ermöglicht, kann der Begriff "Pflicht" schnell einen spielverderbenden Charakter annehmen. Wenn sich das "Tun-Müssen" an die Stelle des "Haben-Können" drängt, rümpfen viele die Nasen und reden von Ungerechtigkeit, beizeiten sogar von Diktatur. Dieses neuzeitliche Phänomen wurde in der Corona-Pandemie besonders deutlich. In seinem vor wenigen Tagen erschienen Buch "Von der Pflicht" geht der Philosoph Richard David Precht diesem auf die Spur. Der Bürger, sagt er, versteht sich häufig nurmehr als Kunde.
Wirft man einen Blick auf die Bewertungen und Kommentare, die sich unter Prechts aktuellem Buch "Von der Pflicht" auf verschiedenen Plattformen tummeln, so bietet sich ein doch recht interessantes Bild: Befürworter des Buches schreiben längere Analysen, Verweigerer meistens nicht mehr als einen kurzen Satz. Befürworter beziehen sich dabei - auch durchaus kontrovers - auf inhaltliche Aspekte, Gegner oft nur auf das Buchcover, auf Bild und Buchtitel, auf "Maske" und "Pflicht". Können wir diese entgegengesetzten Lesarten nicht eins zu eins auf die bestehenden Umgangsformen innerhalb des Corona-Diskurses übertragen? Ja, allein das Wörtchen "Pflicht" scheint vielen Menschen ein Steinchen im Schuh zu sein: Unbequem, störend, zum Stop zwingend. Ja, allein das Wörtchen "Pflicht" scheint auf viele Corona-Leugner und Skeptiker exakt so zu wirken, wie sie selber gerne wirken wollen würden: Unbequem, störend, zum Umdenken zwingend.
Nun ist es natürlich nicht Prechts Absicht, blind zu provozieren und einen Text zu verfassen, der lediglich wiederholt, was uns die Öffentlich-Rechtlichen täglich ans Herz legen. Die Idee der Einführung gewisser gesellschaftsfördernder und Zusammenhalt stiftender Pflichten, begleitet den Philosophen bereits mehrere Jahre. Das durch das Coronavirus deutlich gewordene Phänomen, dass sich doch einige Bürgerinnen und Bürger so aversiv und aggressiv gegenüber ihnen auferlegten Pflichten verhalten, war nur der letzte Tropfen, den es brauchte, um diese Idee genauer auszuformulieren.
Der Bürger als Kunde
Zunächst stellt Precht klar, dass wir in keiner Corona-Diktatur leben. Er macht klar, dass es die Aufgabe des Staates ist, für Sicherheit und Gemeinwohl zu sorgen. Allein aus dieser Aufgabe heraus erwachsen die Beschränkungen und Verbote, die keineswegs die Resultate der Laune einer Kanzlerin sind, die einen bösen, höheren und verborgenden Plan verfolgt. Der Bürger, so Precht, hat Pflichten, die er dem Staat gegenüber erfüllen muss. Grundrechte setzten Grundpflichten voraus; Pflichten, immer stärker als Zumutung oder gar Unterdrückungsinstrumente empfunden werden.
Woran liegt das? Der Bürger, so Precht, sieht sich genau genommen nicht mehr als pflichtbringender Bürger, sondern als vom Staat zu bedienender Kunde. Die Bundesrepublik - und andere westliche Gesellschaften - erscheint vielen wie ein all-you-can-eat Restaurant, welches unausgesetzt liefern soll. Das Buchen von Flug- oder Bahntickets hat längst einen Wettbewerbs-Charakter angenommen, in dem jene, die weniger bezahlen, auf Kosten derer fahren oder fliegen, die tiefer in die Tasche greifen müssen. So wird das einfache "Von A nach B kommen" Teil eines Ausbeutungsmechanismus, der sich tief in uns eingebrannt hat.
Diese Mentalität treibt die Bevölkerung auseinander. Dieser immanente Antagonismus, dieser ständige, leise Kampf, den wir oft nur halb- oder unbewusst kämpfen, der aber unseren gesamten Alltag strukturiert, macht ein Füreinander immer schwieriger. Precht fragt nun, wie wir Werte wie Empathie, Gemeindewohl und Rücksicht wieder stärker stärker fördern können.
Soziale Pflichtjahre für mehr Zusammenhalt
Seine Antwort: Die Einführung verpflichtender Sozialjahre, sowohl für jüngere (nach dem Schulabschluss) als auch für ältere (vor dem Renteneintritt) Menschen. Die Logik hinter dieser Idee ist recht einfach: Wer sich einmal sozial engagiert und im Zuge dieser seiner Tätigkeit Selbstwirksamkeitserfahrungen gemacht hat, wird unter Umständen weiterhin sozial engagiert bleiben. Die Beschäftigungsgebiete sind dabei vielfältig. Man sollte nicht vergessen, dass bereits jetzt ein Großteil der Rentner ehrenamtlich tätig ist (ein Beispiel wäre hier der Fußballverein).
"Wer dagegen in eine andere Lebenswelt hineinriecht und einen sozialen Beitrag über den eigenen Tellerrand hinaus leistet, erlebt das bestätigende Gefühl der Nützlichkeit. Er lernt Neues kennen und bringt sich selbst in diesem neuen Kontext ein. Auf diese Weise kann es über den eigenen "normalen" Wirkungskreis hinaus zu vielen sinnstiftenden Erfahrungen kommen" (Aus "Von der Pflicht")
Flankiert werden Prechts philosophische Gedanken von Ansätzen und Theorien unterschiedlichster Denker wie etwa Cicero, John Stuart Mill oder Tocqueville. Insgesamt trägt "Von der Pflicht" dazu bei, "über den eigenen Tellerrand" hinaus auf eine mögliche Zukunft zu blicken, in der nicht das Ausstechen des Anderen, sondern eine aufrechte Gemeinschaftlichkeit zum Kit unserer Gesellschaft wird. Denn auch wenn die Corona-Pandemie einmal gemeistert sein wird, bleiben noch immer Schranken und Beschränkungen, die verlangen, dass wir als Bürgerinnen und Bürger selbst tätig werden.
Richard David Precht, "Von der Pflicht"; Goldmann Verlag, 2021, 176 Seiten, 18 Euro