Spannend wie ihre vielen Werke liest sich auch die Biografie der in Boltenhagen an der Ostsee geborenen Schriftstellerin Grit Poppe, deren Jugendroman "Verraten" gerade für den Jugendliteraturpreis aufgestellt wurde. Die Autorin studierte am Literaturinstitut in Leipzig, war zu Wendezeiten in der Bürgerbewegung aktiv und schreibt seit 1989 Romane und Geschichten für Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Lesering-Redakteurin Claudia Diana Gerlach führte ein Interview mit der inzwischen in Potsdam lebenden Grit Poppe. Im Anschluss an diesen Artikel gibt es zwei Links zu Rezensionen bei uns.
1. Liebe Grit Poppe, zunächst möchte ich Ihnen dazu gratulieren, dass Ihr Buch „Verraten“ für den Jugendliteraturpreis 2021 nominiert wurde. Das Werk wird als „der große DDR-Roman für Jugendliche“ bezeichnet, Leserstimmen loben die Authentizität der Schilderungen und empfehlen den Roman als Pflichtlektüre an den Schulen. Wo hat Sie diese gute Nachricht erreicht und wie ist es für Sie, dass nun eines Ihrer Bücher mit auserwählt wurde?
Vielen Dank! Vor dem offiziellen Anschreiben bin ich telefonisch vom Verlag informiert worden. Einen Tag später habe ich mich gefragt, ob ich den Anruf vielleicht nur geträumt habe. ;-) Wir leben ja gerade in einer ziemlich surrealistischen Zeit, da kann man schon mal Traum und Realität verwechseln. Zum Glück ist es kein Traum gewesen. Obwohl ich die Nominierung leider nicht auf der Leipziger Buchmesse, sondern zuhause am Computer erlebt habe, war ich ziemlich aufgeregt.
2. Wenn man Ihr umfangreiches Werk betrachtet, fällt zuerst dessen große Bandbreite auf. Sie haben Kinder- und Jugendbücher mit Fantasy-Elementen geschrieben, ein Bilderbuch über ein Huhn, das viereckige Eier legt, eine Geschichte über ein tapferes Mädchen aus dem Volk der kanadischen Cree sowie politische, sozialkritische Bücher, die teilweise seit langem zum Standard im Unterricht gehören. Gibt es einen gemeinsamen Nenner bei Ihren Romanen?
Der gemeinsame Nenner ist vielleicht, dass die Protagonisten Probleme bekommen, weil sie scheinbar „anders“ sind und sich behaupten müssen. Wenn eine Henne Würfel legt, statt Eier hat sie erstmal Ärger auf dem Hühnerhof. Das Bilderbuch von „Wilma Wunderhuhn“ ist natürlich eher witzig, während die Jugendromane mit historischem Hintergrund, also „Weggesperrt“,„Abgehauen“, „Schuld“ „Verraten“ und auch „Alice Littlebird“, ernst erzählt sind. Oft geht es ja um das Thema Umerziehung. Und wenn jemand umerzogen werden soll, bedeutet das im Klartext: Du bist nicht normal, mit dir stimmt was nicht – und wir werden das ändern. Auf diese Art wurde aber in der SED-Diktatur in den Jugendwerkhöfen die Persönlichkeit gebrochen – oft mit lebenslänglichen Folgen. Und auch in den Residential Schools in Kanada wurden die Kinder der First Nations auf ähnliche Weise behandelt – der „Indianer im Kind“ sollte getötet werden.
3. Liegt Ihnen eines Ihrer Bücher besonders am Herzen?
Das meiste Feedback bekomme ich zu „Weggesperrt“, da das Buch Schullektüregeworden ist. Auch viele Erwachsene haben es gelesen, darunter zahlreiche Betroffene, die also im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau und anderen Werkhöfen „weggesperrt“ wurden. Das Buch liegt mir besonders am Herzen, da es sozusagen auch der „Startschuss“ gewesen ist – zum einen, was die Thematik betrifft, zum anderen ergaben sich für mich Kontakte zu verschiedenen Zeitzeugen, die mir dann – auch auf gemeinsamen Lesereisen zum Beispiel – ihre Geschichten erzählt haben. Nach dem Erfolg von „Weggesperrt“, aber auch durch diesen zunehmenden Kontakt konnten ja erst die Bücher „Abgehauen“, „Schuld“ und „Verraten“ entstehen. Auch diese Bücher liegen mir natürlich sehr am Herzen – ebenso wie „Joki und die Wölfe“ und „Alice Littlebird“. Sich für eines zu entscheiden, ist schwierig.
4. Beim Recherchieren bin ich auf eine Aussage von Ihnen gestoßen, in der Sie davon berichten, dass Sie die Urfassung zu „Wilma Wunderhuhn“ bereits zu DDR-Zeiten geschrieben haben, was damals prompt das Interesse der Stasi erregte. Das klingt heute unvorstellbar, wie kam es dazu?
Die Stasi hat sich für mich interessiert, sprich mich überwacht, weil mein Vater sich oppositionell zum Staat verhielt. Z. B. gründete er die Initiative für Frieden und Menschenrechte mit. Automatisch stand ich dadurch auch unter Bewachung, was ich aber damals nicht wusste. Da ich bereits als Jugendliche und dann als junge Erwachsene geschrieben habe, überwachte man argwöhnisch, was ich da so zu Papier brachte. Das waren damals meist recht harmlose Geschichten. Eine davon war „Die seltsame Henne“. In dem Bericht aus der Stasi-Akte ging es um meine „eigentliche Haltung“ zur FDJ. In der Ur-Fassung spielte der Hahn noch eine größere Rolle – und man wollte wohl im Auge behalten, wie ich „ticke“ und ob ich mich mit der „Tierfabel“ über „Leiterfunktionen“ lustig machen wollte. Ich musste lachen, als ich das las.
5. Sowohl bei „Wilma Wunderhuhn“ als auch bei „Alice Littlebird“ erkennt man eine starke Hauptfigur, die in sich ruht, sich durch schwierige Lebensumstände nicht beirren lässt und stets ihren Humor behält. Ist das auch Ihr eigenes Lebensmotto? 😊
Lachen kann schon heilsam sein und auch ein Ausgleich zu existentiellen Situationen. Sowohl Wilma als auch Alice bleibt eigentlich aber auch gar nichts anderes übrig, als stark zu sein und sich selbst zu behaupten. Aus ihrem Anderssein und bei Alice auch aus der Kultur ihres Volkes entwickeln sie diese Stärke. Dass solche Figuren beim Schreiben entstehen, ist sicher kein Zufall und es hat natürlich auch mit einem selbst zu tun.
6. In einem Ihrer Beiträge in den sozialen Netzwerken berichten Sie von den abenteuerlichen „Indianersommern“ Ihrer Kindheit. Ist dieses Lebensgefühl der Freiheit mit in Ihren Roman „Alice Littlebird“ eingeflossen, der ja teilweise sehr dramatisch und sozialkritisch ist, teilweise aber auch ein aufregendes Abenteuerbuch?
Die ersten Bücher, die ich bewusst und auch mehrfach las, waren die Bände „Die Söhne der großen Bärin“ von Liselotte Welskopf-Henrich. Da war ich acht Jahre alt und danach lebte ich in einer „Indianerwelt“ – eigentlich jahrelang. Diese Abenteuer spielten wir als Kinder auch nach und ich fing dann an selbst kleine Geschichten zu schreiben. Also diese Thematik der Ureinwohner Nordamerikas und des Umgangs mit ihnen kommt aus der Kindheit, die Beschäftigung mit der „Umerziehung“, die für Kinder und Jugendliche oft traumatisch war, kam aber viel später dazu. Da „Alice Littlebird“ ein Kinderbuch ab 11 ist, war mir wichtig die Story als ein möglichst spannendes Abenteuer zu schildern. Nach der Flucht des Geschwisterpaares muss die erst 9jährige Alice allein auf einer Insel überleben, während ihr älterer Bruder wieder eingefangenund in der Residential School eingesperrt wird.
7. Wie wurden Sie auf das Grundthema von „Alice Littlebird“ - das Leben der Kinder der kanadischen Ureinwohner in den Residential Schools - aufmerksam und wie wurde aus dem Interesse dieses ergreifende Kinderbuch?
Eigentlich wurde ich erst durch die Recherche auf die Residential Schools aufmerksam. Ich las dann Lebensberichte von Zeitzeugen im Internet. Kanada selbst arbeitet diese historische Tragödie erst seit einigen Jahren auf. Dies aber scheinbar ziemlich gründlich, so dass man viele reale Geschichten finden kann.
8. Ähnlich wie in „Alice Littlebird“ geht es auch bei Ihrem im Schulunterricht verwendeten Werk „Weggesperrt“ um ein Mädchen, das der Willkür und Gewalt der Erzieher in einer Jugendeinrichtung ausgesetzt ist. Es spielt in der ehemaligen DDR: Wurden Sie durch Ihr Engagement in der damaligen Bürgerrechtsbewegung auf dieses Thema aufmerksam?
Nein, ich war zur Zeit der Friedlichen Revolution in der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt aktiv und da ging es, wie der Name schon sagt, darum Demokratie Jetzt auch in der DDR zu ermöglichen – also um die Freiheiten, die uns ja vorenthalten wurden, wie Meinungs-, Reise-, Presse-, Versammlungsfreiheit und natürlich ging es auch um die Menschenrechte. Dass es den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau in der DDR gab, wusste ich damals noch nicht. Von Jugendwerkhöfen hatte ich gehört, bei einer Freundin versteckten sich gelegentlich zwei Ausreißerinnen – Genaues von den Lebensumständen wussten wir nicht. In der DDR war das ein Tabuthema und der GJWH Torgau wurde regelrecht verschwiegen – aus gutem oder eher schlechtem Grund: Die Jugendlichen wurden dort hinter Gittern mit Drill, extremen Strafen und Arrest in Isolationszellen in ihren Persönlichkeiten gebrochen.
Auf die Thematik kam ich auch hier durch eine Grundidee und Recherche. Außerdem ärgerten mich die Ostalgiewelle, die ja bis heute anhält, und die Verharmlosung von Unrecht, das Ausblenden der Opfer-Schicksale. Ausgehend von eigenen Erfahrungen, wollte ich die DDR für die junge Generation mit einer möglichst spannenden, möglichst authentischen Geschichte als das zeigen, was sie gewesen ist: eine Diktatur.
9. Gibt es schon ein neues Buchprojekt oder ein Thema, das Sie momentan zu einem zukünftigen Roman inspiriert?
Für den Herbst 2021 ist für den Propyläen Verlag ein Sachbuch in Vorbereitung mit den realen Geschichten der damals „Umerzogenen“ mit dem Titel „Die Weggesperrten – Umerziehung in der DDR – Schicksale von Kindern und Jugendlichen“. Co-Autor ist übrigens mein Sohn Niklas Poppe, der sich vor allem historisch mit der Thematik auseinandersetzt. Im Moment recherchiere und arbeite ich an einem weiteren Aufarbeitungsthema, das in die SBZ (Sowjetische Besatzungszone) führt. Konkret geht es um Schicksale von deutschen Jugendlichen, die von den Sowjets unter Stalin unschuldig verurteilt und u. a. in den Gulag nach Sibirien verschleppt wurden.
10. Und noch eine kurze letzte Frage: Haben Sie einen Lieblingsschreibplatz? 😊
Wenn es um das kontinuierliche Arbeiten geht, sitze ich ganz profan am Schreibtisch. In einem Café oder Zug könnte ich niemals schreiben.
Liebe Grit Poppe, wir bedanken uns ganz herzlich für dieses Interview!
Ich danke auch! 😊
Und hier sind die Links zu zwei Buchrezensionen:
- Das Kinderbuch "Wilma Wunderhuhn" von Grit Poppe: Arger-auf-dem-Huhnerhof-Wilma-das-Huhnmitdenwundersamen-Eiern/
- Das Jugendbuch "Alice Littlebird" von Grit Poppe: