Das Verbrechen (Auszug)

Vorlesen

"Die Minenfelder waren ordnungsgemäß ausgeschildert."

Generaloberst Klaus-Dieter Baumgarten, Chef der DDR-Grenztruppen



Eine gewaltige Detonation erschütterte das Grenzgebiet im Nordharz, unweit der Straße von Tanne (Sachsen-Anhalt) nach Braunlage (Niedersachsen). Der junge Zollwachtmeister, der erst vor wenigen Wochen seinen Dienst an der Grenze beim westdeutschen Grenzzolldienst (GZD) aufgenommen hatte, fuhr erschrocken zusammen. Fragend sah er zu seinem Kollegen, einem lang gedienten Zollassistenten im GZD. »Daran wirst du dich gewönnen müssen, mein Junge«, sagte der Zollassistent. »Im Osten gehen ständig Minen hoch, und diese Dinger haben richtig Sprengkraft.« »Von Flüchtlingen ausgelöst?«, fragte der Zollwachtmeister. »Nicht immer«, antwortete der Zollassistent. »Oft ist es auch Wild, das in die Minenfelder läuft. Ich habe schon ganze Wildschweinrotten gesehen, die im Minengürtel der DDR in die Luft gesprengt wurden. Eine verdammte Sauerei, sage ich dir.«

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, erschütterte eine zweite Detonation das Grenzgebiet. Der junge Zollwachtmeister zuckte wieder zusammen. »Was war das?!«, rief er. »Noch eine Fehlauslösung?« »Möglich«, antwortete der Zollassistent nachdenklich und blickte angespannt Richtung Osten. Die Stille nach einer solchen Detonation war beklemmend. »Aber zwei Fehlauslösungen, so kurz hintereinander«, fuhr er fort, »das kommt nicht so oft vor. – Wir gehen näher ran und sehen nach, was passiert ist.«

Die beiden Zollbeamten liefen in die Richtung, aus der sie die Detonationen gehört hatten. Nachdem sie ein kleines Waldstück umgangen hatten, sahen sie auch schon eine schwarze Rauchsäule über den Minenfeldern der DDR aufsteigen. Sie gingen hinter einem Strauch in Deckung, rund 80 Meter von der Grenzlinie entfernt. Der Zollassistent nahm sein Fernglas und begann, systematisch das Gelände um die Rauchfahne abzusuchen. Er musste nicht lange suchen. Im Zentrum der Rauchsäule lag ein Baumstamm, vielleicht zwei Meter lang.

Der Stamm qualmte und glühte in der Mitte. Doch was war das? Der Zollassistent stellte sein Fernglas schärfer. Aber nein!, dachte er. Das ist gar kein Baumstamm! Der Zollassistent drehte noch einmal an dem Schärfrädchen seines Fernglases, sah wieder durch, stellte nochmals nach und blickte wieder hindurch. »Mein Gott!«, rief er. »Das gibt es doch nicht!«



Dieser Textauszug stammt aus der vierten Erzählung des 2019 erschienen Buches "SCHWEIGEGELD" von Michael Dullau, in welchem sich der Autor mit den gewaltsamen Todesfällen von Kindern und Jugendlichen im einstigen Grenzgebiet der DDR zur BRD befasst.

Michael Dullau beschäftigt sich seit mehreren Jahren als Autor mit der Aufarbeitung der Geschehnisse an der einstigen deutsch-deutschen Grenze und hat hierzu Romane, Erzählung und Kurzgeschichten, aber auch Fachbücher, Dokumentationen und Chroniken veröffentlicht.


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