Es handelt sich hier um Briefe, die eine Studentin aus Isfahan, Roxana, an ihre Schwester Fatima, ihre Familie, ihre beiden Brüder, Abu und Ali, sowie ihre Freunde in Deutschland schrieb und um die Antworten, die sie erhielt. Sie bekam vom DAAD ein Stipendium, um ihr Romanistik- und Germanistik-Studium in Bonn Anfang der 70er Jahren fortzusetzen und eine Doktorarbeit über Montesquieu und die orientalischen Frauen zu schreiben. Geschildert wird ihr Lebenslauf an der Alma Mater in Bonn, ihre Reisen durch Deutschland und nach Paris, wo ihre jüngere Bruder Ali Medizin studiert. Es ist das erste Mal, dass sie ihr Land verlässt und den Okzident besucht, ihre Eindrücke schildernd.
Roxana an ihren Bruder Ali in Paris
Zeitgeschehen
Die NATO, das westliche Verteidigungsbündnis unter der Schirmherrschaft der USA, tagt in Lissabon und ernennt den Niederländer Joseph LUNS am 3. Juni 1971 zum neuen Generalsekretär. Das ist ein Scharfmacher erster Güte, ganz nach dem Geschmack der Amis. Ganz Westeuropa wurde zum Satelliten der USA.
Lieber Ali!
Ich habe noch kein Lebenszeichen von zu Hause und fühle mich hier schrecklich einsam. Meine Zimmernachbarin Renate ist zwar eine freundliche und hilfsbereite Französisch und Geschichte studierende Kommilitonin, leider fährt sie zumeist von Freitag bis Montag zu ihren Eltern nach Düsseldorf, so dass ich an den Wochenenden ziemlich allein bin, denn ich kenne hier ansonsten niemanden.
Hoffentlich stimmt Deine Pariser Anschrift noch und mein Brief erreicht Dich, mein lieber Ali. Ich würde mich freuen, von Dir zu hören und noch mehr, wenn Du mich in Bonn einmal besuchen würdest. Es gibt hier viele hübsche hoch gewachsene Studentinnen mit ausladendem Busen und einladendem Hinterteil. Ich weiß, Du stehst auf so etwas. Meine Kommolitonin Renate insbesondere, würde Dir sicherlich gefallen. So ganz nebenbei könntest Du dann auch ein wenig Deine Schwester trösten und ermuntern, die sich hier nur schwerlich eingewöhnen kann.
Du hattest mich ja vor dem Kulturschock und der deutschen Kälte gewarnt. Du sagtest, die ersten Wochen seien die schlimmsten und hast, wie meistens, Recht behalten. Doch Du warst es auch, der uns beide, Fatima und mich, zum Studium ermuntert hat und der für uns Partei ergriff, in Gegenwart unseres Vaters und großen Bruders Omar. Du hast ihm, unseren Vater, geschickt eingeflüstert, was für ein Prestige er aus gebildeten Töchtern ziehen könnte. Omar hast Du allerdings nicht überzeugen können. Er hat Dich, Ali, Mamas Liebling, nie so recht ausstehen können. Du sahst für uns in der Schule und im Studium den einzigen Weg zur Selbstverwirklichung und Selbstbefreiung, in der für uns Frauen nicht immer freundlichen Welt des Islam.
Doch als ich dann in den Augen unseres Vaters zu selbstständig wurde, versuchte er sofort zur Wahrung der väterlichen Allmacht, mir einen Bräutigam zu verpassen und mich unter die Haube zu bringen. Da warst Du allerdings schon in Frankreich, um Medizin zu studieren. Die Sache mit meinem Auslandsstipendium und Auslandsstudium war ihm gar nicht geheuer und es wäre mir auch nicht gelungen, mich durchzusetzen, wenn mein Bräutigam Omar sich nicht auch Vorteile von meinem Deutschlandaufenthalt versprochen hätte, und er nicht einen Verwandten und Freund in der iranischen Botschaft in Bonn gehabt hätte. Dieser soll hier auf mich aufpassen. Doch dieser Aufpasser, unser Militärattaché Fariborz, hat nur Augen für meine Freundin Renate und wird sich hüten, schlecht über mich zu berichten, ich könnte ja sonst seiner Frau, die er vorsorglich in Teheran zurückließ, auch einiges erzählen, was ich inzwischen über ihn in Erfahrung brachte. Er lädt mich zwar immer zum Essen und Tanzen ein, ist aber dann doch ganz froh, wenn er mit Renate allein abziehen kann. Sie findet orientalische Männer äußerst nett, faszinierend, wie sie sagt.
Die europäischen Frauen haben es wirklich leichter, oder besser gesagt, sie machen es sich leichter und spielen mit den Männern, führen sie an der Nase herum. Wir Orientalinnen tun uns da schwerer, eingekeilt zwischen einer den Jungfrauenkult huldigenden Mutterwelt und einer allein den Männern alle Rechte vorbehaltenden Religion. Trotz Verwestlichung, bleibt unsere orientalische Welt patriarchalisch, totalitär, wie Du es nennst, und lässt uns Frauen nur einen geringen Spielraum. Hier im Westen sind wir dann gleich doppelt eingezwängt: wir gelten als Exotinnen, mysteriös, voller sexueller Geheimnisse und zu Hause betrachtet man uns als gefährliche, verruchte Außenseiterinnen. Wir fallen aus unserer Rolle als Gattin und Mutter, werden “unheimliche Intelligenzbestien”, also vermännlicht, und das kann kein guter Muslim ertragen.
Wie sagte nicht immer wieder unsere liebe Mama? – “Was nützt es Dir, Deine Augen über Bücher zu verderben, meist Du, dass wird Dir helfen, einen Mann zu finden?” - Sie war, als sie das immer wieder vor Fatima und mir wiederholte nicht drängend, schien eher bekümmert. Als sich dann doch ein Mann für mich interessierte, war sie zunächst beruhigt. Doch dann war sie völlig entsetzt, als ich das Stipendium hier in Bonn annahm. Sie konnte nicht verstehen, dass ich nicht sofort heiratete und ihr pro Jahr einen Enkel bescherte. Du hast zwar versucht, sie zu beruhigen, doch obwohl Du ihr Liebling bist, glaube ich nicht, dass es Dir gelungen ist.
Dich ließ Sie ohne weiteres gehen, doch mich hält Sie für völlig verrückt und unvernünftig. Ihrer Ansicht nach, stürze ich mich in mein eigenes Unglück. Für Sie war mein Studium immer Luxus und intellektuelle Spielerei. Und je länger ich studierte, um so unheimlicher wurde es ihr. Sie hält mich für verstockt und ist der Ansicht, ein Dämon sei in mich gefahren. In Ihren Augen, bin ich dabei mein Leben zu verpfuschen, weil ich zu viel lese und studiere. Und Fatima hätte ich auch infiziert, bemerkt sie immer wieder vorwurfsvoll. Sie lebt noch in der alten Auffassung, dass die Familie nur auf den Schultern der Väter und mehr noch der Söhne ruht und wir Mädchen nur dazu erzogen werden, das Vermögen der Schwiegermütter zu vergrößern, indem sie für sie Söhne am laufenden Meter fabrizieren.
Unsere Mutter hatte nie eine eigene Persönlichkeit, sie lebt nur für ihre Familie, das heißt für ihre beiden Söhne. Sie trieb auch unseren Vater an. Wir Töchter sind für Sie nur Tauschware: Tochter gegen Schwiegertochter. Und während wir beide, Fatima und ich büffelten und lernten, erkannten wir immer deutlicher, wie wichtig Wissen für unsere Befreiung ist. Zum Glück warst Du ganz anders als unser Bruder Abu und halfst und fördertest uns. Dir schien es nicht nur Freude zu machen, uns gegen die Eltern aufzuwiegeln, sondern Du warst echt mit uns solidarisch. Du betrachtetest uns als ebenbürtig und beneidetest uns sogar wegen unseres Arbeitseifers. Durch Dich und Deine Hilfe bekamen wir einen Vorgeschmack der Freiheit. Du sagtest Vater, Du würdest uns bewachen und beaufsichtigen und ließest uns freien Lauf. So konnte ich studieren und mich verwirklichen und stehe nun auf eigenen Füßen. Doch es ist schwerer als ich dachte. Ich brauche Deine Aufmunterungen und Deine verständnisvolle Gegenwart. Lasse mich nicht zu lange auf deine Antwort warten und besuche mich recht bald hier in Bonn.
Zum Glück sind einige der Vorlesungen hier interessant. In meinen Philosophie- und Literaturprofessor, Eberhard Wilhelm, der über das "Neue Deutschland 1830-1835" liest, habe ich mich richtig verliebt. Es ist ein großer, stattlicher Mann mit schütterem Haar, einem runden dickem Bauch und stets schlecht gebundener geschmackloser Krawatte, zumeist viel zu engem Anzug. Ja manchmal vergisst er sogar seinen Hosenstall zu schließen, was richtig peinlich ist. Immer wieder scheint er über seine Lesebrille hinweg zu mir in der ersten Reihe zu blinzeln, aber er kann auch meine Nachbarin meinen, die ihn mit einem Augenaufschlag anhimmelt, der selbst Omar, unseren großen Bruder in Qom verwirren würde. Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob er uns Zuhörerinnen überhaupt sieht, einen so fürchterlichen Silberblick hat er!
Er begann mit Ludwig BÖRNE, einem Dichter von dem ich bisher noch nichts gehört und gelesen hatte. Dabei berufen sich alle Jungheglianer auf ihn und betrachten ihn als ihren geistigen Vater. Friedrich ENGELS nennt ihn in einem Atemzug mit Hegel und bezeichnet ihn nicht nur als den Bannerträger der deutschen Freiheit, sondern sogar als Johannes Baptista der neuen Zeit, der allein gegen 40 Millionen Deutsche aufgestanden sei, um das Reich der Freiheit zu proklamieren. Laut ENGELS und Professor Wilhelm war er ein eiserner, geschlossener Charakter, von imponierender Willensfestigkeit. Heinrich HEINE, bisher einer meiner Lieblingsschriftsteller, scheint auf seinen Kollegen Börne richtig eifersüchtig gewesen zu sein. Er bezichtigte ihn sogar des "politischen Wahnsinns" und meinte, er habe sich mit der Zeit zu einem Demagogen entwickelt, "der sich vergnüglich im plebejischen Kot wälze".
Dieser Ludwig BÖRNE wurde 1786 in Frankfurt am Main geboren und starb 1837 im Exil in Paris. Eigentlich hieß er Juda Löw Baruch und nach einem Jura und Medizinstudium öffnete er in seiner Heimatstadt zur Zeit Napoleons eine Anwaltspraxis. Unter dem Druck der Metternich Restauration musste er allerdings seine Kanzlei schließen und nach der Juli Revolution 1830, emigrierte er nach Paris. Prof. Wilhelm erklärte uns in glühenden Worten, Börne sei ein Verehrer von Jean Paul gewesen und seine "Pariser Briefe" seien ganz wichtige Zeitdokumente. Er sagte uns auch, dass Börne GOETHE nicht besonders mochte und HEINE als Dilettanten durchschaut hatte.
Ich kaufte mir natürlich sofort Börne's Werke in einem kleinen Antiquariat gleich vor der Universität und lese seither darin mit wachsender Begeisterung. In der Ankündigung seiner Werke bemerkt er: "Was ich immer gesagt, ich glaubte es. Was ich geschrieben, wurde mir von meinem Herzen vorgesagt, ich musste. Darum, wer meine Schriften liebt, liebt mich selbst." Das gefiel mir und so liebte ich den Börne auf den ersten Blick. "Ich suchte zu bewegen; der Beweislehrer gab es schon genug. Wer zu den Köpfen redet, muss viele Sprachen verstehen, und man versteht nur eine gut; wer mit dem Herzen spricht, ist allen verständlich, spricht Musik, in der sich Jeder vernimmt, sich, und eine leise Antwort hört, auf jede leise Frage." Liebe und Herz: darauf kommt es Börne an und die gesamte Kunst kann ihm dafür gestohlen sein.
Höre was er in Bezug auf Goethe schreibt: „Bei Goethe finden sich immer nur Mätressen und hommes entretenus; wahre Liebe kennt er nicht und lässt sie nicht gelten... Goethes Lieblingsworte sind: heiter, artig, wunderlich. Er fürchtet sogar sich zu wundern; was ihn in Erstaunen setzt, ist wunderlich. Er scheut alle enthusiastischen Adjektive; man kann sich so leicht dabei echauffieren.“ Börne wirft Goethe vor, er habe nie ein armes Wörtchen für sein Volk gesprochen und dass sein Lehrstil jeden freien Mann beleidige. Es mangele ihm auch an Witz: „Aber ohne Witz, meint BÖRNE, sei man noch so ein großer Dichter, kann man nicht auf die Menschheit wirken. ... Ohne Witz hat man kein Herz, die Leiden seiner Brüder zu erraten, keinen Mut für sie zu streiten.“
Genau so denke auch ich mein Bruderherz! Bitte vergiss mich nicht und schreib mir bald. Besuch mich, wenn du kannst
Deine Schwester Roxana
P.S. Hier im Studentinnenheim kann ich dich natürlich nicht unterbringen, aber kleine preiswerte Pensionen gibt es hier, wie ich schon sagte, in der Nähe in Hülle und Fülle.